Nacht der Nächte

Südwind. Dann liegt etwas in der Luft. Wetter aus Süden verändert. Macht leichter, unbeschwerter, freundlicher. Bringt Lächeln, Öffnung.

Gestern Nacht – hat es schon ewig hier nicht mehr gegeben. Eine laue Sommernacht. Trocken, ohne nassen, kühlen Tau. Ohne Pullover. Ich war im Nachbardorf auf eine Party eingeladen. Ein vierzigster Geburtstag. Ab 19 Uhr. Fußball. Fußballverein. Einer unserer Alten Herren ist 40 geworden. Alter Herr ist man im Fußball ab 32. Er hatte eingeladen. Weil er meine Mobilnummer nicht hatte und ich im Urlaub war, kam die Einladung per SMS nach Italien. Wer hätte da sagen können, dass das eine solche Nacht wird?

Ich bin mit dem Fahrrad gefahren. In Schale geschmissen. Weißes Hemd. Seine Freundin und er haben in den letzten Jahren ihr Haus renoviert. Super aufwendig und stilvoll. Mit einem sehr schönen Garten, weil er Garten- und Landschaftsbauer ist. Mit einer Feuerstelle aus Naturstein, die später die Nacht erhellte. So standen wir dort unter freiem Himmel und einem Meer aus Sternen. Tranken Bier, erzählten und tranken Bier. Erst den ganzen Abend, dann die ganze Nacht. Und wir hörten Musik, die der Onkel aufgelegt hat. Der, der schon Onkel war, als er geboren wurde und deshalb hier Onkel heißt.

Irgendwann habe ich mich zu ihm gesetzt, ans Laptop. iTunes. Eine Sammlung. Die Geschichte der Rock- und Popmusik. Sie kam mir nahezu vollständig vor. Wir haben alles gehört. Klassiker, Verschollenes. Aha-Effekte am laufenden Band. Wie viele Bands es gibt, die unsterblich sind. Wie viele Songs.

Eigentlich hatte ich relativ früh abdampfen wollen. Nach Hause, weil ich einer Freundin versprochen hatte, sie und ihre Tochter am nächsten Tag in Köln vom Flughafen abzuholen. 13:25 Uhr. Die Maschine aus Athen. Es wurde später und später und ich reduzierte die Stunden notwendigen Schlafs permanent. Es war einfach so schön.Ein wenig auch eine Erinnerung an die Nächte in Italien, als ich auch nicht nach Hause gehen konnte. Seit einiger Zeit ist mir das Nachhause-gehen-Gen abhanden gekommen. Ich bleibe. Sauge auf, nehme mit. Hab Spaß. Freu mich dran. In Italien war das un-, un-, un- un-, unbeschreiblich. Nächte, die in goldenen Truhen im Zentralspeicher meiner Erinnerung liegen. In feines Papier gehüllt. Mit gutem Duft und mehreren Flaschen Peroni als Beigabe.

Gestern dann die Nacht der Nächte dieses deutschen Sommers. Ich hatte nicht zu wagen gehofft. Das Wetter seit unserer Heimkehr eh schon ein Geschenk. Und dann das. Wir saßen da, ließen uns durch die Musikgeschichte treiben. Hörten The Who, Beatles, Hendrix, Dire Straits, Jethro Tull, Black Sabbath, AC/DC, The Doors, REM… Stundenlang. Wir saßen dort auf der Terrasse, als plötzlich eine richtig fette Sternschnuppe vom Himmel fiel. Keine, bei der man hätte denken können „War das ein Satellit?“. So eine von oben senkrecht herab. 21, 22. Dicker Leuchtballon, Schweif und weg. In diesem Jahr meine Dreizehnte, glaube ich. Habe mir immer dasselbe gewünscht, was bereits in Erfüllung gegangen ist. War. Quasi an Ort und Stelle. Es hatte also keinen Sinn, es noch einmal zu wünschen. Hab ich trotzdem. Wie um es zu bestätigen. Ich lächele. Kann mir plötzlich nicht mehr vorstellen, diese Nacht zu verschlafen. Die Augen zu schließen.

Die Gäste gingen langsam. Irgendwann war ich der letzte. Der Gastgeber war ins Bett gegangen. Hatte am Feuer gesessen, geschlafen. Seine Freundin hat ihn geweckt, ins Bett gebracht – „Mir ist so kalt.“ Ein unwirklicher Augenblick wie im Film. Dort fällt der Satz, wenn einer ins Jenseits übergeht. „Mir ist so kalt. Reitet ohne mich weiter.“ Wir haben dann ohne ihn weiter gefeiert. Song um Song, Bier um Bier. Zwischendurch Jägermeister, vor dem ich Respekt hatte. Ob mein Kopf sich am nächsten Tag anfühlt, als trage er ein Geweih? Ist gut gegangen. Um 6 Uhr bin ich mit meinem Rad gefahren. Den Feldweg zwischen den Maisfeldern hoch. Die Sonne ging auf, vor mir. Ein gelber Schimmer am Horizont, eine feine Linie, die Himmel und Erde trennt. Durch den Wald, an den Wiesen vorbei, das Dorf hinunter. Kurz ins Büro. Mails checken. Yes. Ab ins Bett um kurz vor Sieben. In meinem Zimmer war es komplett hell. Bis halb elf gepennt. Aufgestanden. Kopf gecheckt. Alles O.K. Glück gehabt. Jetzt bin ich hundemüde und blogge vor, weil ich morgen keine Zeit habe. Viel zu tun, Termine, enge Zeitfenster. Bin ich froh, dass ich gleich liege. Und froh, diese Nacht der Nächte in Gänze und total erlebt zu haben. Schöne Gedanken, Gefühle. Und eine fette Sternschnuppe als Bonusmaterial zum Soundtrack.

What the hell ist dieses Leben?

Kann mich mal bitte jemand an die Hand nehmen? Mich ein wenig führen? Mir Dinge erklären? Solche, wie das Leben zum Beispiel? What the hell is going on?

Das Leben. Meines, eures, unseres. Auf diesem Planeten, in unseren Wohnungen und dazwischen. Dauernd passiert was. Kleine Dinge, wie ein Cappuccino, große Dinge wie Schlammlawinen in Vernazza, das Sterben geliebter Menschen, Trennungen, Verliebungen, Finanzchaos, Fußball-Europameisterschaften und das ganze großgeopolitische Gedöns von Hindukusch bis Fukushima. Olympia, das komplett an mir vorbeigegangen ist. Einziges Bild ist eine feiernde Sprinterin im roten Dress, die ich in Levanto im Vorbeigehen in einer Eisdiele im Fernsehen gesehen habe.

Es passiert so viel. Plötzlich. Und ich für mich stehe da und staune. Bin erschüttert, verschreckt, begeistert, erzürnt, verworren, betört, verloren, gefunden, begeistert, berührt, berührt. Das ist Leben, sagt jetzt vielleicht jemand von euch. Alles ist erklärbar, definierbar. Man kann sich hinsetzen, forschen, Sinnzusammenhänge aufschreiben, Formeln postulieren. Wenn a, dann b. Und Wurzeln und Algorithmen und Logarithmen und Logopädie. In meinem geliebten Buddhismus heißt es, dass wir in jedem Augenblick unser eigenes Dasein schaffen. Unsere Zukunft, ab dem jetzigen Moment. Bin ich nett, ist alles O.K. Bin ich es nicht, gibt es Krieg und es sterben bisweilen sogar Menschen. Unvorstellbar. Selbstgemacht. So lange Hass erzeugt, gepredigt, verwünscht, bis es kracht.

Und nun? Sitze ich hier mit dem Meer, Italien und Levanto im Rücken. Werde furchtbar sentimental, denke an meine Mama und. Das Leben. Wie es spielt, läuft, schlängelt. Mal bist du oben, mal bist du unten. Hab ich im letzten halben Jahr, in den letzten Monaten reichlich erfahren. Wie sagt ein Freund: Manchmal kriegst dus einfach voll auf die Fresse. Mit Nasenbluten und Kopfschmerz bis der Arzt kommt. Und dann, als wäre nichts gewesen, kommt ein neuer Tag, der Frühling, die Vöglein zwitschern und so ein scheißkitschiger Schmetterling, lieblich und schön, umsurrt dich und setzt dich auf deine Hand. Was soll das, bitte schön? Läuft das so? Zuckerbrot und Peitsche? Brot und Spiele? Mal Zuschauer, mal Löwenfutter? Na Bravo und Applaus auch.

Si. Yes. Qui. Genau so. Scheinbar. Was hilft? Was tun? Auch da gibt es diesen wunderbaren Trick, den ich seit sehr langem beherze: Weiteratmen. Weiteratmen. Weiteratmen. Ela würde sagen: Die Welle reiten. Ela. Schön. Es geht wieder. Die Betonsturmflutschutzwallmauern können allmählich abgebaut werden. Langsam. Ich sehe schon drüber und freue mich. Wenig Angst mehr. Nur mal so zur Info. Zwischendurch.

Also what the hell ist dieses Leben? Mein Kopf als alte Textermaschine würde jetzt gliedern und eine wohlklingende Abhandlung schreiben. Mein Herz sagt: Halt die Klappe, du hast keine Ahnung. Tatsächlich habe ich mal gedacht, ich wüsste, wie der Hase läuft. Ich glaube, da war ich so 30. Ungefähr so alt wie auf dem Foto von 1994 im vorangehenden Post. Jetzt, wo ich auf die 50 zugehe, fängt es an, dass irgendetwas in mir sagt: Lass es. Nimm die Finger weg. Hör auf zu erklären, zu fabulieren, zu antizipieren. Lass es laufen, kommen, egal, was es ist. Denk nicht nach, nimm es, lass es, entscheide dich so, wie es sich am besten anfühlt.

Es läuft gerade. Es ordnet sich. Das Leben macht mir Geschenke. Ich fühle mich wie ein kleiner Junge, der zugedeckt wird, dem das Leben über den Kopf streicht und sagt: Alles ist gut. Träum schön. Ich habe da noch eine Kleinigkeit für dich. Augenzwinkern. Ist das Traum oder Wirklichkeit? Das Spiel, die Realität, die Wirklichkeit und das Leben. Ein Thema, an dem ich schon lange arbeite. Das bis hierher schwammig bleibt. Ungewiss. Ungewisser als damals, als ich dachte, die Welt erkannt zu haben.

So what? Nichts. Weiteratmen. Die Gedanken kommen und gehen lassen, die Krisen, Katastrophen nehmen, wie sie sind. Ohne Angst. Was kann mehr passieren? Es passiert so viel und letztlich kommt der Frühling, der Tag beginnt, der Schmetterling kommt und setzt sich. Zoe hat mir im Urlaub einen Seeigel in die Hand gegeben. So ein stacheliges Vieh, vor dem man Angst hat, weil es unter Wasser mit seinen Stacheln wartet, um sie einem in den Fuß zu rammen. Sie sagte: „Papa, schau mal, wie schön der ist. Und wenn du ihn auf der Hand hast, dann kribbelt das. Er saugt sich fest.“ Sie gab ihn mir in die Hand und er war wunderschön. Die Stacheln tiefschwarz und wie eine Sonne angeordnet. Das Gefühl in der Hand war so nett. Er hat sich tatsächlich festgesaugt. Aber es war ein Streicheln wie von kleinen Händen.

Mama hat einen Freund.

Ich kenne sie seit 47 Jahren. Sie hat mich geboren und auch sonst ziemlich viel für mich getan. Meine Mama.

Ihr Mann, mein Papa, ist im Februar gestorben. Herzinfarkt in einem Restaurant. Sieben Ärzte und Sanitäter, mehrere Rettungswagen. Plötzlich. Aus. Ein Anruf an einem späten Mittwochabend, den man sich so gar nicht wünscht. Tränen, Trauer und all das, was notwendig ist. Durch die Nacht fahren, reden und organisieren. Was alles getan werden muss. Einen Sarg aussuchen. Grabschmuck, Karten. Eine Todesanzeige texten. Mein Job. Für meinen Vater. Einer der wichtigsten Texte meines Lebens. Wie immer unter Zeitdruck, weil der Drucker wartet.

Gestern der Anruf. Ein guter Anruf. Aus dem Urlaub hatte ich meiner Mutter eine Karte geschrieben. Beruhigend, damit sie weiß, dass alles gut ist und ihr „Mittlerster“ klar kommt in der neuen Familienkonstellation und dem Urlaubsexperiment. Sie klang gut. Nichts in der Stimme, was Moll erahnen ließ. Schön.

Ich habe ihr einen Stein aus Italien mitgebracht. So einen schönen hellen grauen mit feiner weißer Linie. Quarzeinschluss. So einen, den man nicht kaufen kann. Sie hat sich so einen von mir gewünscht. Einen, der von Herzen kommt, der eine Geschichte hat. Für diesen sind Jim und ich eine halbe Stunde die Küste entlang geschnorchelt bis zu dem Felsen, wo die Kinder aus zehn Meter Höhe in dieses kleine Bassin gesprungen sind. Mit wenig Wassertiefe. Der Grund in einem Tauchschwung erreichbar und voller Steine. Die Kids sind leicht, treffen wie Korken aufs Wasser. Ich stand oben und schaute lieber den Möwen zu, die auf den Felsen im Meer den Wind genossen.

Jim wollte mit mir in die Höhle tauchen. Mit Taschenlampe, die dann leider trotz Verpackung nass geworden ist. Wir sind so reingetaucht, als mich plötzlich ein Schmerz am Arm traf. Elektroschock, Brennesselkonzentrat. Wir hatten uns die Höhle mit einer Feuerqualle geteilt. Autsch. Die beiden Tentakelstreifen zieren noch jetzt meinen Arm. Wieder ein Erlebnis, Abenteuer. Mit Jim unterwegs zu sein ist speziell im positiven Sinne. Der Junge strahlt eine Ruhe aus, die mich seit dem ersten Augenblick fasziniert. Sein Blick, als er geboren wurde. Wie langsam kann man schauen…

Wir sind vorsichtig aus der Höhle geschwommen, Jim ist auf den Fels geklettert, gesprungen, ist getaucht und hat den Stein hoch gebracht. Nicht oval oder rund, wie die anderen, sondern eher dreieckig. Er ist in den Zeiten irgendwie anders abgeschliffen worden. Ich nehme ihn in die Hand beim Zurückschwimmen, treibe mich mit den Flossen vorwärts. Er liegt gut in der Hand, ein schönes, schweres, sonniges Gefühl. Leichtigkeit mit Gewicht.

Das Telefon klingelt. Hier ist Mama. Wir sprechen. Über den Urlaub und sie fragt, ob ich eine Freundin habe. Ich erzähle ihr den Stand der Dinge. Wundere mich. Eigentlich fragt sie nicht, lässt mich. Wenn, erzähle ich. Frei. Sie wollte hören, wie es mir geht und ob ich für die Info bereit bin. Sich vortasten. Denn: Sie hat einen Freund. Wow! Ich kannte sie 47 Jahre lang nur an der Seite meines Vaters. Und nun ein anderer Mann. Verrückte Welt. Es geht ihr gut, da ist jemand aufgetaucht, den sie mag. Sie erzählt und ich höre in ihrer Stimme, wie gut alles ist. Wie wohl sie sich fühlt, auch wenn da noch Bedenken sind, weil der Februar noch nicht so lange her ist. Vergiss es, Mama. Nimm es. Freu dich. „Ich wollte, dass du es weißt.“ Nicht irgendwie anders erfährst, dachte sie. Nein, ich freue mich. Sehr. Wie schön. Da ist mir ein Stein vom Herzen gefallen.