Gut, gut, Gitta. Mach‘ ich. Schreibe über den Tag gestern. Er war: Sehr intensiv. Jims Klasse hat 38 Schüler/innen, die alle irgendwie mitgespielt haben. Allerdings gibt es zwei Besetzungen. Einmal spielt die eine Hälfte den Hauptpart und die anderen sind die „Masse“, und einmal ist es genau anders herum. Morgens spielte Jim Mr. Ross. Er ist in „Die Welle“ der Lehrer, der seine Schüler/innen in das Experiment treibt. Auf der Bühne also überwiegend Schüler/innen, die Schüler/innen spielen. Zunächst cool. Die Jungs haben Football im Kopf, die Mädchen Jungs. Sprüche fliegen über die Bühne. Geschichtsunterricht. Mr. Ross spricht über das Dritte Reich, zeigt einen Film. Schock, Betroffenheit. Und es steht die Frage im Raum: Wieso konnte das passieren?
Die Schüler/innen verstehen es nicht. Mr. Ross versteht es auch nicht. Zur nächsten Stunde überlegt er, die Kinder das Phänomen des Gruppenzwangs erleben zu lassen. Er lockt sie in eine Falle, ködert sie mit Disziplin und Gruppengefühl. Der notorische Außenseiter der Klasse lebt plötzlich auf, schiebt sich in den Vordergrund, wird akzeptiert. Das Unheil nimmt seinen Lauf, die Dinge eskalieren. Es entsteht ein Zwang in der Schule. Die „Weißhemden“ zwingen die anderen in ihre Bewegung. Wer nicht mitmacht, ist der Feind.
Auf der Bühne sehe ich meinen Jungen als Mr. Ross. Wie er überlegt, leidet, sich windet, wie ihm das Experiment einfällt, wie er es umsetzt, wie er mit seinen Schüler/innen spielt. Gänsehaut. Für mich war es einfach unfassbar. So intensiv, das ich tatsächlich immer wieder Tränen in den Augen hatte. Am Ende löst Mr. Ross die Situation auf. Er lässt „Die Welle“ antreten. Die berühmte Szene 30. Jim steht alleine oben auf der Bühne. Vorne am Bühnenrand im Scheinwerferlicht. Agitiert. Eiskalter Blick. Ganz ruhige Stimme. Im Saal sitzen 250 Zuschauer/innen. Im Publikum die Mitglieder der Welle. Der große Showdown. Mein Kleiner ganz groß. Neben mir sitzt mein Schwiegervater mit Tränen in den Augen, auf der anderen Seite Ela.
Jim zieht das durch. Tut so, als wäre er weiter für die Bewegung. Lässt zwei „Verräter“ auf die Bühne zerren. Ist perfide, gemein. Fragt, was nun mit denen geschehen soll? Töten? Quälen? Foltern? Die Mitglieder der Welle weichen zurück. Mr. Ross löst die Szene auf. Es war ein Experiment. „Seht ihr, wie weit das führen kann? Vor einer Woche noch, konntet ihr euch nicht vorstellen, wie weit Menschen gehen. Und nun seht selbst, was aus euch geworden ist. In euren weißen Hemden unterdrückt ihr Mitschüler/innen. Ihr habt geprügelt…“ Das war pure Gänsehaut. Jim hat das ohne ein kleinstes Wanken durchgezogen. Jeden Satz gesetzt. In einer Ruhe und Kraft, die mir fast unheimlich war. Puh.
Großer Applaus. 38 auf der Bühne. Gutes, sehr emotionales Theater. Die sind jetzt einen Schritt weiter. Gestern Abend dann, hat die zweite Besetzung gespielt. Ela hat sich danach als Elternvertreterin auf der Bühne bei allen Unterstützern bedankt. Was sah die Frau gut aus. Und was war sie aufgeregt. Sie hat mich um Hilfe bei der Rede gebeten. Fiftyfifty. Und dann steht sie da oben und zieht das souverän durch. Das war ziemlich sexy:) Heute Abend ist Jim wieder an der Reihe. Meine Eltern kommen mit und eine Freundin. Eine Kommilitonin, die Jim schon seit kurz nach der Geburt kennt. Und die ihn, sie ist Lehrerin, seit frühster Kindheit mit bestem Lesestoff versorgt hat.
Ich hoffe, Jim hält durch. Der geht ziemlich auf dem Zahnfleisch. Die Proben waren anstrengend, gestern Abend war er spät im Bett, heute Morgen musste er um sechs Uhr raus und er hustet und schnieft. Morgen hat er dann frei. Der Große. Was für ein Kerl. Ich muss wohl nicht mehr sagen, wie verdammt stolz ich auf ihn bin. Und auf diese ganze Klasse. Rampensäue. Keine Angst. Voller Selbstvertrauen. Auch dank eines Lehrers, der sie machen lässt. Der alle mitnimmt. Dem standen gestern auch die Tränen in den Augen, weil er seine Klasse am Ende des Schuljahres verlässt. Dann übernimmt er die erste Klasse und betreut sie acht Jahre – bis zum Achtklasspiel, wenn die alle groß sind und ein Stück weit ihren eigenen Weg gehen… Überwiegend als starke, gefestigte Persönlichkeiten.



