Rituale. Rituale. Rituale. Was war das noch? Religion, Naturreligion, Tanzen um ein Feuer? Jim kam vor Weihnachten aus der Schule und sagte beim Mittagessen: „Unser ganzes Leben ist geprägt von Ritualen. Alles sind Rituale. Das Zähneputzen morgens, das Mittagessen, das Fahren mit dem Schulbus. Alles.“ He? Alles Rituale? Wie das so zwischen Vater und Sohn und Sohn und Vater ist, war ich erst einmal skeptisch. Das kann doch nicht sein, dass alles Rituale sind. Ich meine, das wäre doch total inflationär. Ritual leitet sich doch nicht von steter täglicher Wiederholung ab.
Habe ich dann in etwa so formuliert und wir haben eine ganze Weile diskutiert. Ela und Zoe mögen das zwar nicht, weil Jim Steinbock ist und ich bin Widder, was bisweilen zu sturen Positionskämpfen führt. Der Junge führt in der Sprache ein scharfes Florett, ist schnell im Denken und treibt einen schnell in die Ringecke. Und freut sich. Ich meine, wir beiden freuen uns, dass wir einander als Diskussionspartner haben, weil die Themen, die so aus der Schule kommen, wirklich spannend sind. Das nehme ich doch gerne auf – aber eben nicht 1:1. Was Jim sicherlich auch langweilen würde. Und mich natürlich auch.
Jetzt haben wir Januar und mich beschäftigt das Thema immernoch. Weihnachten, Heiligabend waren wir in der Schule. Dort gibt es einen schönen Festakt mit klassischer Musik. Das ist das Schöne an Waldorf, da gibt es immer richtig gute Musiker. Das hat Stil. Im großen Eurythmiesaal mit den hohen Decken standen große, geschmückte Fichten. Alle saßen auf ihren Stühlen, es war ruhig und angenehm, da kamen die Kinder herein. Die Kleinen. Wurden an der Tür einzeln begrüßt, um sich anschließend in die erste Reihe zu setzen. Es wurde gesungen, es wurde die Weihnachtsgeschichte vorgetragen. Also das war ein Ritual, meiner Meinung nach. Eines mit Saft und Kraft. The same procedure as every year.
Und ich muss sagen, ich finde es gut und schön, dass es solche Rituale gibt. Riten. Denn die sind zu einem raren Gut geworden. Mir scheint, dass sie gar verschwinden. Zurücktreten. Ist in einer zunehmend modernen, technisierten Gesellschaft kein Platz für Rituale? Für Traditionen? Das sind Rituale doch – Traditionen. Oder? Nun stammen viele unserer etablierten Rituale aus dem christlichen Umfeld. Weil die Kirchen aber immer mehr Federn lassen – überall werden Kirchen geschlossen und verkauft, Pfarrstellen gestrichen – gibt es auch immer weniger Raum für Rituale. Christliche Rituale.
Gibt es Ersatz? Entdecken wir uns da gerade neu und substituieren die alten Rituale durch neue? Kürzlich war ich in Köln mit der Familie zum ersten Mal auf einem Poetry Slam. In Köln im Ehernfelder Kultur-Bahnhof. Gerammelt voll der Laden. Zweihundert, dreihundert Literaturinteressierte! Auf der Bühne junge Menschen, die ihre Texte sprachen. Auswendig, überwiegend. Sehr spannend, sehr unterhaltsam, bestens moderiert. Das Publikum, wir, hingen an den Lippen der Autoren/innen. Nach jeder Runde wurde abgestimmt, wer weiterkommt. Es ist ein Wettbewerb. Es gab lustige, ernste, politische, lange, kurze Storys und Gedichte. Die, die da oben standen, hatten tatsächlich was zu sagen. Persönliche Botschaften für ein mehr als interessiertes Publikum. Ist Poetry Slam ein neues Ritual? Die Kirche der Gegenwart? Die Messe der jungen Generationen?
Dass ein Wandel stattfindet, spüren wir wohl alle. Die Zeiten ändern sich. Der Zeitgeist. Ich merke, dass ich tatsächlich etwas tun muss, um Schritt zu halten, um alte, ehrwürdige, wohl gehütete Denkmuster zu überwinden. Ich sitze in einem Poetry Slam und versuche zu verstehen, was da passiert. Es ist so anders und ich merke, dass es mir schwerfällt, zuzugeben, dass das wirlich gut ist. Wieso? Weil ich mein Ego überwinden muss, um in eine neue Zeit zu kommen? Weil ich dazu alte, liebgewonnene Ansichten über Bord werfen oder zumindest grundrestaurieren muss? Läuft die Zeit zu schnell oder bin ich mit 46 in einem Alter, wo das Alter beginnt? Es fällt immer leicht zu sagen „Früher war alles besser. Die Werte verfallen, die Jugend hat nur noch Konsum im Kopf. Keine Rituale mehr.“ Stimmt so nicht.
Die Kirche versucht dem teils durch Anpassung entgegenzukommen. Eine Bekannte erzählte mir, dass im Weihnachtskrippenspiel in ihrer Gemeide vermeintliche Jugendsprache gesprochen wurde – Josef sagte zu einem der Hirten „Hey Alter!“. Und es gibt mittlerweile wohl so eine Art Heiligencomics für die Kleinen, in denen Jesus ein Handy hat. Aua. Das ist wohl nicht der Weg. Alte Rituale, neue Rituale. Ich merke, ich bin da hin und her gerissen. Das wird mich wohl noch eine ganze Weile beschäftigen. Mir sind Rituale wichtig, deshalb möchte ich, dass sie gerettet werden. In irgendeiner Form. Aber dieser Rettungsgedanke „Save the…“ ist wohl mittlerweile auch eher antiquiert. Ich glaube, ich muss da noch mal Jim konsultieren:)




