Mit Interstellar 227 im doublespace

Entrückt.

Aus der Welt in die Welt. Wo sind wir? Wo leben wir? Wozu das alles?

Köln am Wochenende, an einem Freitag. Die Premiere von Interstellar 227 in der Alten Feuerwache. Wir haben uns ein Hotelzimmer in Deutz genommen, sind ein kurzes Stück U-Bahn ohne Ticket gefahren und den Rest gelaufen. Labor Ebertplatz lag auf dem Weg, dort haben wir Judith getroffen, die gerade mit einer Ausstellungseröffnung beschäftigt war. Bilder aus geschreddertem Geld. Ein Mandala aus den Resten des Glaubens an Materialität. Der Übergang vom Glauben aus Papier ins existentielle Moment der Sinnlichkeit.

Wir hatten wenig Zeit, das Weltall wartete auf uns. Auf Facebook hatte ich über einen Kulturservice Karten gewonnen. Das Leben ist irreal.

Barbara Schachtner. Dorrit Bauerecker.

Wir hatten Supernova der beiden im Theater der Keller gesehen und auch vorher schon eine Performance/ ein Konzert/ ein Theaterstück im Rhenania im nächtlichen Schatten der Kranhäuser.

Doublespace. Doppelraum. Zwei Seiten einer Medaille. Das Hier und Jetzt. Der Space, der Raum, das Unerwartete, die Zukunft, das, woran wir noch nicht glauben. Können. Wollen. Verhext unsere Ahnungslosigkeit aus Unwissenheit.

Die beiden beherrschen ihre Metiers. Dorrit virtuos die Tasten von Akkordeon, Flügel, Mini-Piano. Barbara ihre Stimme und alles, was Körper klingen lässt.

Ich wusste nicht, was auf uns zukommen würde. Ich bin ein musikalisch Unbedarfter, der nur auf das hören kann, was geschieht. Das ist bei Interstellar 227 eine Menge.

Viele waren an dieser Produktion, die wie ein Stern vom Himmel gefallen ist, beteiligt. Norbert van Ackeren hat das Bühnenbild geschaffen. Den Raum, die Konvention, das Vereinbarte gesprengt. Mit Aufwand, wie wir beim gemeinsamen Abbau des Bühnenbildes am späten Samstagabend erfahren konnten.

Ein Karreé, ein Viereck, ein Geviert. Herabgefallen aus dem Universum, bestückt mit Aliens einer fremdem und doch bekannten Klangwelt. Grün, Stiefel mit Plateau-Sohlen, gehüllt in transparente Kunststoffstreifen. Wesen nicht von dieser Welt und doch.

Der Lauf eines extraterrestrischen Abends. Klänge, von Sensoren ausgelöst. Sensoren in Barbaras Handschuh. Die Interpretationen von Kompositionen für diese Aufführung geschaffen.

„INTERSTELLAR 2 2 7 hat mit den Komponisten Christina C. Messner und Roman Pfeifer zwei Verbündete für die Mission gefunden. Musik und Text weiterer Schöpfer*innen fließen in diese elektrisierende Performance aus Musik, Choreographie und Licht mit ein.“

Wir Erdlinge sitzen als Unwissende um das Karreé herum und sehen und staunen. Musik, Klänge, neue Dimensionen, das Bewegen in Richtung Mars. Das Alte trifft das Neue, das Bestehende das Zukünftige. Neue Musik, über Grenzen gehen, Grenzen ausloten, Genre vermischen. Ist das eine Oper, wenn die Musikerinnen spielen? Ist das szenisch musikalisches Theater? Ist das ein inszeniertes Konzert? Oder eine musikalische Performance?

Interstellar 227 ist so mutig, neu, konsequent, leidenschaftlich, anders. Ich saß dort mit offenem Mund und wusste nicht, wie mir geschieht. Supernova war noch eher Klang und Spiel, doublespace waghalsige neue Musik. Wechselten die Szenen, kamen die beiden mir vor wie Sniper, die ihre Instrumente aus dem Regal holen, um zu tun, was getan werden muss. Der Musik Bahn brechen.

Da hilft es, im Kostüm von Aliens zu agieren, weil man dann eh fremd ist und der Himmel keine Grenze. Das Gewohnte, die hässliche Konvention sprengen und doch das schöne Alte in Form des Liedes einbinden. Es sind gefühlvolle Wesen, diese Aliens, die uns haben teilhaben lassen. Brücken bauen, Seelen streicheln, Gehör fordern.

Ich war irgendwo draußen im Space unterwegs mit diesen Aliens. Und ich habe mich wohl gefühlt, aufgehoben, an die Hand genommen. Ein sehr fürsorglicher Umgang mit dem Neuen, verantwortungsvoll, schön.

Und gewaltig. Ein starker Eindruck, Impetus. Gravierend, relevant. Nichts, was einfach so vorübergeht.

Sie haben eine weitere Stufe erklommen, Komponisten*innen als Begleiter auf ihrer Sternenreise gewonnen. Und sicherlich zahlreiche Fans. Alle Plätze waren besetzt, der Applaus war lang. Es muss ein gutes Gefühl sein, in seinem Leben etwas so Besonderes auf die Beine gestellt und auf die Bühne gebracht zu haben.

doublespace gab es zunächst nur an zwei Abenden. Anfang nächsten Jahres wird es einen Termin in Bonn geben. Und dann hoffentlich noch mehr. Denn es braucht Menschen, die den Raum sprengen und ihn gleich einfach mal um einen zweiten erweitern. Ich liebe es, Menschen zu sehen und zu erleben, die den Blick nach vorne richten. Die Weg bahnen und bereiten für Neues, die Türen öffnen im Hören und Denken.

Interstellar 227 doublespace ist wertvoll. Atemberaubend sinnstiftend. Ich wünsche euch, den Abend einmal zu erleben.

Im Sommer 1990 war ich auf dem Weg nach Köln ins Theater. Die Vorstellung fiel aus und ich lief planlos durch die Innenstadt. Dom, Fußgängerzone. Da entstand am Abend Zuhause der Text: Das Spiel, die Realität, die Wirklichkeit und das Leben.

Ein ähnliches Gefühl hatte ich an diesem Wochenende. Das meinte ich zu Beginn des Beitrags mit dem Wort entrückt. Als ich Samstagnacht wieder aufs Land kam, war ich ziemlich geschafft. Zu viele Eindrücke. Das Hotel, Deutz, das Labor, die Feuerwache, Interstellar. Am nächsten Tag Flohmarkt an der Pferderennbahn, der erste Besuch in Max WG, die Sperren des Köln-Marathon umfahren, ein Spaziergang am Rhein, Essen im Offenbach, das Abbauen des Bühnenbildes.

Wo steht man im Leben? Was macht das Leben mit einem? Was macht man mit dem Leben? Es vorbeiziehen lassen oder formen? Ich möchte es so intensiv spüren wie am Wochenende. Ich möchte das Neue und das Alte sehen, möchte die Dinge verknüpfen und das Denken fliegen lassen. Alles miteinander verbinden. Das erzeugt Sinn. Ich mag es, wenn die Dinge aufgehen und Sinn ergeben. Wie auch immer.

P.S. Ich konnte es nicht lassen, jede Menge Fotos in guter Auflösung einzubinden. Sorry für die Ladezeiten. Aber ich möchte den Abend und das Wochenende fein dokumentieren.

Infos zum Projekt:

INTERSTELLAR 2 2 7
Barbara Schachtner: Stimme, Gesang, Sensoren, Performance
Dorrit Bauerecker: Klavier, Akkordeon, Toypiano, Sensoren, Performance

TEAM

INTERSTELLAR 2 2 7: Künstlerische Leitung / Ausführende
Monika M. Kozaczka: Produktionsleitung
Wolfram Lakaszus: Technischer Leiter / Entwicklung des Sensorsystems
Norbert van Ackeren: Szenographie
Sabine Seume: Dramaturgie / Choreographie
Sophia Spies: Kostüm
J.Garavaglia / C.Robles: Programmierung und Klangeffekte
Chikashi Miyama: C# Programmierung

Christina von Richthofen: Öffentlichkeitsarbeit
Anke von Heyl: Social Media-Beratung

AUFTRAGSKOMPOSITIONEN: Christina C. Messner, Roman Pfeifer

#doublespace wird gefördert von NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste, Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Kunststiftung NRW, Kultursekretariat Wuppertal, Kulturamt der Stadt Köln, Künstler-Union-Köln (KUK) mit freundlicher Unterstützung von ON Neue Musik Köln, Priesterseminar Köln, Alte Feuerwache Köln

Die wunderbare Gemeinsamkeit von Colleen Sakurai, Shoichi Sakurai, Helga Mols, David Grasekamp

4 by 4.

4 Künstler*innen, vier Werke, vier Räume. Im Kulturhaus Zanders in Bergisch Gladbach. Die vorletzte Ausstellung, bevor das ehrwürdige Gebäude den Familienbesitz verlässt und anderweitig genutzt wird.

Colleen Sakurai, Shoichi Sakurai, Helga Mols, David Grasekamp.

Gestern Abend war die Eröffnung der Ausstellung. Bis hinten voll das Kulturhaus Zanders. Habe ich schon einmal eine so gut besuchte Vernissage erlebt?

Raum 012, Erkerraum – im Erker Shoichi Sakurais Werk Pieces United

Im Erker hängt eine Metallkonstruktion, ein ehemaliger Flaschentrockner, der nun Garnspindeln aufnimmt. Garn in Blau, Weiß, Rot. Hier laufen die Fäden zusammen, hier trifft sich das Spinnennetz der Welt, hier ist das Zentrum der Gemeinsamkeit. Alles ist verbunden, vernetzt, in Kontakt.

Die Fäden laufen zu dem überwiegend blauen Flickenteppich am Boden. Blaue Baumwollflächen handvernäht, mit Mustern versehen, angeordnet. Alte Stoffe, historisch, aus Japan hierher verbracht. Eine Collage aus Stoffen, eine Geschichte aus der Geschichte. Es geht um Verbundenheit, den Kern dieser Ausstellung.

Nicht die Einzelne, der Einzelne zählt, es ist das Zusammenwirken, die Interaktion des Positiven, das soziale Moment des Seins.

Wie wollen wir leben? Wie wollen Künstler*innen arbeiten? Wie viel Trennung des Ichs möchten wir zulassen?

Am Boden liegen die Geschichten vieler Einzelner. Von arbeitenden Menschen aus Japan. Die haben sich die Knie durchgescheuert, die Ellenbogen und haben Flicken draufgesetzt und ihr Wirken und Arbeiten erhalten, konserviert und Shoichi hat uns diese Geschichten mitgebracht. Ich für mich sehe in meiner naiv entfernten Sicht auf Japan kleine Höfe, Reisfelder, eine Werkstatt.

Die Fäden laufen zart. Nebeneinander. Sie gehen in die Stoffe und ihre Flächen, die Shoichi liebevoll vernäht hat.

Er kniet auf seinem Werk, erläutert die Details, erzählt von den Stoffen.

In dieser Ausstellung wird viel erzählt. Es sind die Geschichten der vier Künstler*innen, die sich auf ein waghalsiges Projekt eingelassen haben. Erst stand der Termin, dann musste gearbeitet werden. Jeder Raum hat ein Signatur-Werk, ein Anker-Werk, ein Thema, auf das die drei anderen reagieren mussten. David gab ein Werk auf seiner Ausstellung DIS-POSITIONEN an gleicher Stelle vor zwei Jahren vor. Colleen, Helga und Shoichi antworteten.

In Helgas Raum musste ich lächeln. Sie ließ ihre Strange Loops wirken. Lächeln musste ich wegen Davids Arbeit. Wir würde er, der so nah dran ist, reagieren?

Wie kann man eine vorgegebene Arbeit aufnehmen, bearbeiten, als Inspirationsquelle nehmen, wenn man so dicht am Werk der Partnerin dran ist? Das gilt natürlich auch für Colleen und Shoichi.

Das ist das, was die Stärke dieser Ausstellung ausmacht. Sie erzählt von Verbundenheit. Von zarten Banden, von Liebe, Freundschaft und Respekt.

Da sind vier erwachsene Künstler*innen, die in ihrem eigenen Werk einen Weg gegangen sind. Die nicht am Anfang stehen. Das Werk ist da, die Handschrift geformt, das Sujet gewählt, der Stil geprägt.

Man muss über seinen eigenen Schatten springen, sich einlassen.

Das haben die Vier getan. Jeder Raum ist voller Kraft und Spannung aus der Diskussion der Werke untereinander heraus.

Colleens Ravens‘ Flight.

Tief Rabenschwarz. 3D. Wellpappe. Feinfühlig lebendig dynamisch. Ja, was an der Wand hängt, fliegt. Der Rabe fliegt. Und vor ihm kniet in Ergebenheit Shoichis fein gebogener Flügel. Eine Blechtür mit Griffen. Zwei Raben miteinander verbunden, was eben auch durchaus ein romantisches Moment der Ausstellung ist. Muss man als Paar hinbekommen, sich so zu spiegeln. Mit der Sprache der Kunst. Liebeserklärungen, Respektbekundungen, die den 4ren wunderbar gelungen sind.

Auch im nicht angekündigten fünften Raum, der erzählt, dass das Prinzip der Ausstellung schon lange gelebt wird und einfach wunderbar funktioniert.

Ich war und bin begeistert. Den Optimismus der zentralen Aussage habe ich gerne mitgenommen. Als wir zum Auto gingen, sah ich dann das Hochhaus, das auf das Kulturhaus Zanders blickt und mir war, als würden Fäden auf mich zukommen. Verbundenheit über alle Grenzen menschlichen Getrenntseins hinweg.

Unbedingt ansehen, Zeit mitbringen und in die Welt der 4 eintauchen. Die Verbindungen suchen, sich die Geschichten erzählen lassen, mit jedem einzelnen Werk Spaß haben. Das alles ist großes Kino.

Finissage ist am 10. November – bis dahin gibt es ein spannendes Rahmenprogramm und viel Gelegenheit, die Künsteler*innen vor Ort zu treffen. Fakten & Infos zur Ausstellung hier!

Mit Barbara Schachtner durch das Deutzer Zentralwerk der schönen Künste

Für Sebastian

Letzte Woche erreichte mich eine Mail mit der Frage, was mit dem fiftyfiftyblog los sei. Alles in Ordnung? Yep. Alles im grünen Bereich.

Nur: Die Dinge ändern sich. Viel ist derzeit von Transformation die Rede. Auf dem Weg zur Arbeit kürzlich hörte ich im Deutschlandfunk einen Bericht über ein Soziologentreffen in Jena. Transformation, Veränderung, Neudenken von Gesellschaft. Es ist viel los im Staate Dänemark und es gibt viel zu tun, um all die Fragezeichen in den Köpfen der Menschen durch grüne Häkchen zu ersetzen.

Transformation. Ein Ort, der Transformation lebt. Anja Kolacek, Marc Leßle, raum 13 und mittlerweile eine Heerschar Helfender und Unterstützender. Menschen, die anpacken, mitdenken, mitgestalten. Nur kurz: Es geht um einige verbliebene Hektar Land in Köln. Irgendwo zwischen Deutz und Mülheim. Hier wurde der Otto-Motor erfunden, von hier startete die Ära des Automobils und der Individualmobilität. Im Jahr 2019 durchaus ein Thema, das beschäftigt.

Ein Ort mit Kraft und Vergangenheit, der zwischen Bewahren und Verkaufen an Immobilieninvestoren schwebt. Platt machen oder überführen? Bagger oder Denker? Sprengen oder transformieren? Wohnen oder leben? Alles zum Thema findet ihr auf der Seite von raum13.

Gestern Abend hatte raum13 eingeladen, die Erfinderstätte mit der Sängerin und Performerin Barbara Schachtner klanglich zu entdecken. Die Einladung war per Mail gekommen und ich wusste, dass ich das auf gar keinen Fall verpassen wollte. Never ever, wie meine Liebste gerne sagt.

Klanglich erleben. Mit den Ohren sehen, mit den Augen hören, mit den Gedanken spüren. Wir trafen uns im Foyer der alten Fabrik, um uns auf eine Reise durch Räume, Vergangenheit und uns selbst zu begeben. Da sind zunächst die starken visuellen Eindrücke. Die Räume, in denen das Leben dieser Fabrik, dieses historischen Ortes stattgefunden hat. Die Räume des Betriebsrates, der Personalabteilung, der Geschäftsführung. Die Hallen, in denen die Motoren montiert wurden, die Duschräume im Keller, der Hof, der von Betriebsamkeit erzählt.

Bislang habe ich all diese Räume und Orte bei meinen Besuchen fast ausschließlich mit den Augen gesehen. Visuell wahrgenommen. Gehört habe ich die klangvollen Konzerte (irre intensiv – die Musikkollektive rund um Hans-Joachim Irmler), die Diskussionen um Zukunft, die Vorträge zum Thema Zukunftskunst, all die Stimmen der Besucher*innen…

Aber den Ort habe ich bislang nicht gehört. Barbara hat ihn uns gezeigt. Transformation im Kleinen und Großen. Dinge zulassen, die da sind, aber nicht gesehen, gehört werden. Vom echobeladenen Flur in den gedämpften Besprechungsraum der Chefetage. Erst einmal Klappe halten. Hören, wahrnehmen. Sich Raum und Zeit nehmen, dort zu sein. Mit allen Sinnen.

Sensibilität, Zartheit des Augenblicks. Seele. An einer Wand das Zitat: „Wir erleben die größte seelische Veränderung seit der industriellen Revolution.“ Das Wort Seele hat mit gut getan. Meine habe ich kurz durchflackern sehen, hören. Man muss die gewohnten Pfade verlassen, um wahrzunehmen, was ist, um zu denken, was sein kann. Darum geht es an diesem wunderbaren Ort, der seit Jahren aufgeladen wird durch Menschen, die bereit sind.

Querdenken, wird das lapidar genannt. Aber, verdammt nochmal, wie macht man das? Mal eben quer denken? Nicht mehr geradeaus stringent, nach Norden, Süden, rechts, links? Quer. Dann mal viel Spaß beim Machen. Hinsetzen und quer denken. Klappt doch nicht. Was bitte schön, soll das Quer denn auslösen, wenn man auf geradem Weg unterwegs ist?

Theatrale Werkstatt. Zukunftskunst. Anstöße. Korrektive.

Das ist ein Prinzip. Die Antwort nicht schon kennen, bevor die Frage gestellt ist. Innovation in seiner schönen, nicht ausgelatschten Bedeutung. Die Innovation des Denkens und Fühlens. Sich einlassen, bereit sein, offen.

Hören.

„Hört ihr den Raum?“ Au Mann, und wie! Das war der helle Wahnsinn. Du stehst in einem Raum, von dem du glaubst, dass du ihn kennst. Du hast ihn ja schon öfter gesehen. Und dann hörst du ihn. Und dann passiert etwas. Du veränderst dich. Veränderst deine Haltung. Und eben nicht nur zu dem Raum. In deinem Kopf geschieht etwas. Hören, Sehen, Gedanken fließen ineinander und geben ein kompletteres, komplexeres Bild. Das hat sich gut, richtig, schön, seelenvoll angefühlt. Inspirierend.

Wir waren in vielen Räumen, es war eine lange Reise, die nicht hätte aufhören müssen. In den verlassenen Räumen der Chefs haben wir die Räume klingen lassen. „Nehmt euch einen Raum. Lasst ihn klingen.“ Einzelne verschwanden, andere hörten vom Flur aus zu. Es entstand ein Klangteppich aus Gegenwart und Zukunft, aus den Stimmen des Jetzt und den Geräuschen der Vergangenheit. Lachen, Schreien, Trommeln traf auf das Klappern der Schreibmaschinen. Hören, was im Raum ist. Fernab des Rationalen. Spüren, wozu unser Geist in der Lage ist. Transformation, verändern, Sinn und Verstand neu justieren.

Das war ein außerordentlich intensiver, erhellender, schöner, wertiger Abend. Es lohnt sich immer wieder, raum13 zu besuchen. Dort geschieht Fantastisches. Hier lebt die Hoffnung, dass sich die Dinge zum Guten wenden lassen. Nicht einfach an Investoren verkaufen, einreißen, Geschichte entfernen, sondern gestalten, entwerfen, quer denken, innovativ sein. Quer denken: Wie wollen wir morgen leben? Den guten Köpfen, den Menschen in Köln Raum geben.

Einmal nicht zubetonieren.

Die Chance besteht. Wie wertvoll dieser Raum, dieser Freiraum, dieses Projekt ist, zeigt sich mehr und mehr. Es sich nicht mehr erlauben, auf die Impulse zu verzichten, die Querdenken, neues, frische Denken, ermöglichen.

Herzlichen Dank, Anja, Barbara, Marc für den Abend und alles.

Das Schöne lieben, leben

Nun, ich weiß nicht, wo anfangen.

Zwei Wochen Urlaub, zwei Wochen wie zwei Monate. Lande mal.

Raus aus allem.

Viel passiert, viel gesehen, viel Zeit gehabt.

Für mich, für uns.

Freitag vor zwei Wochen haben wir uns ins Auto gesetzt und sind in Richtung Italien aufgebrochen. Hotels waren gebucht. Riva del Garda, Verona, Venedig. Zwei Tage, zwei Tage, vier Tage. Zwischendurch irgendwann mein Geburtstag. 54. Ups.

Danach waren wir bei meiner Mutter in der Eifel und haben ihren Garten auf Vordermann gebracht. Dann waren wir hier und haben heute einen Gartenteich in die Erde gebracht. Meine Liebste liebt Fische. In ihrem Teich sind noch ihre Fische. Nun werden sie demnächst auch Landeier und ziehen aus der großen weiten Welt aufs Land, aufs Dorf. Nichts bleibt wie es ist.

In diesem Text habe ich nun ein Problem. Wie all die Dinge, die passiert sind, in einem Blogbeitrag unterbringen? Mein Kopf ist so voll. Gedanken, Bilder, Abenteuer.

Mein Geburtstag in Venedig.

Ich war mehrmals in Venedig. Es gibt ein Foto von mir, da bin ich zwei Jahre alt und stehe an der Hand meines Vaters auf der Rialto-Brücke. 1967/1968. Dann war ich auf Klassenfahrt in Venedig. 1981. Da hatte ich mir braune Wildlederschuhe gekauft. Und dann mit der Uni. Italienische Reise. Im VW-Bus auf Goethes Spuren. 6 Wochen. Gunnar wurde an dem Tag, als wir in Venedig waren, 33. Gunnar lebt nicht mehr. Nun. Ich hatte für ihn eine Flasche Wein aus einem Restaurant geklaut und war an meinem Professor vorbei mit Highspeed geflüchtet.

Dann sind wir rüber gefahren. Vaporetto. St. Giorgio Maggiore. Palladios Kirche gegenüber vom Markusplatz. Da haben wir damals gesessen und haben den Wein getrunken. Später sind wir den Canale Grande entlang zurück zum Schiff, das uns zum Festland gebracht hat, wo wir in den VW-Bus gestiegen sind, um die Brenta herauf nach Padua zu fahren, wo wir Zimmer hatten. Über diese verrückte Reise damals müsste ich einmal schreiben. Unser Professor in Rom in dem günstigen Hotel am Bahnhof im Kaftan. Jeden Abend eine Trattoria, jeder Tag voller Renaissance, Bilder, Museen, Orte, Häuser. Palladios Rotonda, Verona, Vicenza, Padua, Venedig, Rom, Pompeji, Assisi, Paestum, Florenz…

18. April 2019. Mein Geburtstag. Als die Glockentürme Venedigs Mitternacht schlagen, sitzen wir dort wie damals. St. Giorgio Maggiore. Allein. Ganz allein. Niemand dort. Nur wir beiden mit dem Blick auf die Stadt. Mein Herz in Flammen, meine Seele badet in Glück. Wir küssen uns, wir trinken französischen Sekt von der Loire. Es ist kühl, es ist besonders, es ist alles.

Als wir das nächste Boot nehmen wollen, kommt es nicht. Das nächste auch nicht. Keine Ahnung. Robinson und Freitag.

Ich pfeife mit den Fingern und wir erwischen ein Taxi zum Markusplatz.

Dort sind wir allein. Fast. 2 Uhr in der Nacht und nur William und Olivia aus England sind dort. Sie 19, er 20. Sie umarmen mich. Glückwunsch. Wir reden über das Reisen und das Alleinsein in der Nacht in Venedig. Gute Reise! Ich gebe den beiden meine Karte und lade sie ein, uns zu besuchen. Unser Haus steht offen für William und Olivia. Würde mich freuen.

Wir laufen durch die Nacht. Kein Mensch. Venedig crowded? Niente. Die Rialto-Brücke gehört uns. Ganz allein. Keine Menschenseele. Wir laufen bis in den Morgen. Unser Hotel liegt am Ende des Canale Grande unweit des Bahnhofs. Venedig ist unglaublich. Unglaublich schön. Man muss Venedig zu nehmen wissen, man muss sich arrangieren. Zwischen all den Menschen liegt so viel Schönes.

Am Abend gehen wir essen. Geburtstagsessen. Eine Trattoria in unserem Viertel. Cannareggio. Am Canale Cannareggio. Mittags haben wir einen letzten Tisch für abends ergattert. Im Dalla Marisa. Ein Menü. Sechs Vorspeisen. Fisch. Dann eine Fischlasagne und Fritto Misto und Weißwein und eine Creme und ein Espresso und ein Grappa. Und ein Wirt mit einem wunderschönen Lächeln. Glatze, kräftig, charmant, mit einem Kinderarmband am Gelenk und einem Kellner, mit dem er lacht und lacht. Alle Gäste im Gespräch, keine Handys. Unglaublich, diese Stimmung, Atmosphäre, das Gefühl, dort zu sein und all diese leckeren Speisen zu essen.

Vier tage Venedig. Lido, Murano, Burano.

Eine fantastische Kunstausstellung in einer der alten Werfthallen.

In meinem Kopf sind so viele Blogbeiträge. Über 1.400 Fotos.

Burano mit den bunten Häusern ist so schön, Murano hat dieses Glas.

Nun.

Ich habe mich in Murano-Glas verliebt.

Bislang dachte ich, das ist so buntes Touri-Zeugs.

Nun habe ich einige Ateliers gesehen. Hey. Wow. Alter.

Bei einer Schale wäre ich fast schwach geworden. 570,00 €. Oball.

In einem Atelier kosteten Vasen auch 6.000,00 €.

Nach meiner Rückkehr habe ich ein wenig recherchiert und planlos investiert. Flavio Poli hat es mir angetan. Eine Schale habe ich gekauft, drei Vasen. Kommt alles in den nächsten Tagen.

Meine Erkenntnis: Schönheit. Es ist schön, sich mit schönen Dingen zu umgeben. Goethes italienische Reise. Elysien. Arkadien. Palladio, Renaissance. Guido Reni, Caravaggio.

Und dann waren wir bei meiner Mutter in der Eifel. Sie kann ihren Garten nicht mehr pflegen. Also haben wir das gemacht. Wir sprachen über Murano und sie zeigte uns ihre wunderschönen Murano-Lampen, die mir nie aufgefallen waren. Dann sah ich all das, was sie in ihrem Haus stehen hat. Und im Garten. Sie ist Floristin, kommt aus einer Gärtnerei, hat Menschen Blumenstecken beigebracht, auch mir, und hat immer nach Gefäßen Ausschau gehalten. Das ganze Haus voller Vasen, Schalen, Blumen.

Da fiel mir auf, dass das meine Kindheit war. Dass ich immer von Schönheit umgeben war.

Heute haben wir einen Teich im Garten angelegt. Der Nachbar hat uns mit seinem Bagger geholfen. Vom Fenster aus schaue ich auf den Teich unter dem Baum. Wasser im Garten.

Alles gibt es immer auch in schön.

Das Leben lieben, die Liebe leben. Das Schöne. Arkadien, Elysien.

VERÓNICA von Helga Mols und der Umgang mit der Gegenwart

VERÓNICA, 120 x 95 cm, Gouache und Öl auf Leinwand, Pflanzenfarbe auf Baumwolltuch, 2019 – von Helga Mols

Ausgestellt im Kulturhaus Zanders in Bergisch Gladbach im Rahmen der AdK-Ausstellung „alles ist eitel“ – der Titel entstammt aus einem Gropius-Gedicht, in dem eitel im Sinne von vergänglich verwendet wird. Es ging also um Vergänglichkeit.

Mit Ihrem Bild zitiert Helga Mols den spanischen Künstler Francisco de Zurbarán (1598-1664). Sein Schweißtuch der Veronika (Öl auf Leinwand, 105×83,5, 1658, Spanien, Museo Nacional de Escultura Valladolid) könnt ihr euch HIER anschauen.

Die heilige Veronika hat Jesus auf dem Weg zum Kreuz mit einem Tuch den Schweiß abgewischt. Dieses Tuch ist, in einem Tresor, in eine der zentralen Säulen des Petersdoms eingelassen. Eine sehr heilige, wichtige Reliquie der katholischen Kirche, die nur einmal im Jahr gezeigt wird.

Immer wieder haben Künstler das Motiv aufgenommen, unter anderem El Greco, Guido Reni, Albrecht Dürer…

Und nun Helga Mols in ihrer Zurbarán-Interpretation.

Ihr Tuch ist kein Schweißtuch, sondern eine Windel, durch die sie in den letzten Jahren den Saft gepresster Früchte filtriert hat. Ihr geht es um die Natur, die Schöpfung im Kontext von Vergänglichkeit. Vergänglichkeit im Jahr 2019. Was könnte einem da einfallen? Nun.

Mir gefällt das Zitat, die feine künstlerische Idee der Auseinandersetzung mit einem schwierigen Thema, das gleichermaßen platt wie tief ist. Wie über Natur sprechen im Jahr 2019, ohne in Stereotype zu fallen?

Jesus, der Beginn der christlichen Zeitrechnung vor 2019 Jahren. Was ist seither geschehen? Ein dreißigjähriger Krieg, in dessen Kontext Gropius die Vorlage der Ausstellung gegeben hat. Die Entwicklung der christlich geprägten westlichen Welt, die sich entwickelt und aufgeklärt hat, um über den Glauben an die Technik die Natur ins Hintertreffen geraten zu lassen.

Nun könnte man viel in Helga Mols VERÓNICA hinein interpretieren und Verbindungen zwischen den Vorbildern und Zeiten herstellen, die Farben mit Bedeutungen aufladen und letztlich in der Interpretation alles verkomplizieren. Hatte ich vor. Auf die Strange Loops einzugehen, die den Hintergrund bilden. Die Farbtöne, das Braun, Beige, Rötliche, das trockener Saft sein könnte. Mach ich nich.

Das Bild ist ein zartes Band und als solches wirkungsvoll und schätzenswert. Es ist eine mit der Natur gelebte Verbindung. Es ist ein Spiegelbild dieses sensitiven Lebens von Helga und David im Atelierhaus an der Agger. Auf dem Weg dorthin fährt man durch Cyriax, wo neben den Grundmauern eines alten Klosters ein Jahrhunderte alter Baum steht. Fährt man den Weg im Dunkeln, steigt David aus, um in der feuchten Jahreszeit die Salamander von der Straße auf die Wiese zu tragen. Verliert ein Baum auf dem Grundstück einen riesigen Ast und muss dieser Baum gefällt werden, geschieht das nicht einfach so. Fliegt ein Vogel vor ein Fenster des Atelierhauses und überlebt mit Schock, hält ihn David so lange warm, bis er wieder bei Sinnen ist und davonfliegen kann. Es ist ein verwunschener Ort an der Agger, der so viel Einfluss auf das Leben und Arbeiten der beiden Künstler hat.

Von daher ist VERÓNICA weniger in der Vergangenheit als vielmehr in der Gegenwart verankert, verortet. Als ein feines Zeichen, das zitiert, die Botschaft aber wie damals im Tuch trägt. Und erinnert man sich daran, was wir im Religionsunterricht und in den Unterweisungen der Kirche gelernt haben, so ist Jesus der Retter der Welt, der alle Schuld auf sich nimmt. Eine schöne Idee, die ich nie verstanden habe. Dieses Schweißtuch ist nicht in Schweiß getränkt, sondern in Fruchtsaft.

Das empfinde ich als ausgesprochen schön und optimistisch. Eine kluge Botschaft, in der es um Einklang geht. Im Wesen profan, im Leben unendlich wertvoll. Steht man vor VERÓNICA und schaut sich das Bild an, wirkt es. Es trägt die Aura des roten Hauses an der Agger mit all seiner künstlerischen Energie und dem Leben, für das es steht, in sich. Vital, schlüssig, fein, zurückhaltend.

Es hat sich gelohnt, das Bild live zu erleben und ich kann mich wieder einmal nur dafür bedanken, dass Helga und David die wertvolle Arbeit leisten, die sie leisten. Denn das Künstlerische gewinnt als Methode dieser Zeit zunehmend an Bedeutung. Wo das Rationale die Grenzen längst überschritten hat, bietet die Kunst den Raum, neu und anders zu denken. Das ist der Weißabgleich, der so zwingend geboten ist. Das Besinnen, das VERÓNICA ermöglicht.

AdK-Ausstellung: es ist alles eitel

Ausstellungsort: Kulturhaus Zanders, Hauptstraße 267-269, 51465 Bergisch Gladbach

Ausstellungsdauer: bis zum Sonntag, 14. April 2019

Öffnungszeiten: dienstags, donnerstags, sonntags von 15 bis 18 Uhr