Au revoir.

Au revoir.

Wenn ich Veronika gefragt hätte, wäre es dann anders gewesen? Hätte sie sich anders entschieden? Ich bin auf dem Weg nach Paris im Thalys mit einem Hinfahrtticket in der Tasche. Das erste Mal Paris und gleich unter dramatischen Umständen. Vater ist letzte Woche gestorben. Plötzlicher Herztod. Gestern war die Beerdigung. Alles schön, viele Blumen, eine liebevolle Predigt, Kaffee, Kuchen, Bier, Schnaps, Lachen. Einer hat gekotzt, heimlich, draußen, ich war kurz rausgegangen, frische Luft schnappen, nach Atem ringen, traf auf dieses Würgen, stoßweise Auswerfen von Sahnekuchen, Käsebrötchen und Pils. Stand neben dem Mann, roch die Kotze, hielt eine Hand auf seinem Rücken, schaute mir die Details an, den Prozess der Zersetzung. Magensäure, Bakterien. Eine Masse, Pampe, ein Konvolut aus Anverdautem. Mir war danach, den Moment aufzunehmen, die Kotze zu fotografieren, jedes Stückchen, jeden Brocken zu nummerieren und zu kategorisieren. Ein wenig Halt, Struktur im Moment der Auflösung. Mir war danach, etwas zu tun, zu handeln. Gerne hätte ich den Mann in seine Kotze geschubst, ihn von der Seite getreten. Stattdessen sagte ich „Arschloch“.

Heute Früh hat Veronika mit mir gesprochen. Es ist aus. Es geht nicht mehr. Es ist ein Punkt erreicht. Wir saßen in der Küche am Tisch auf den Plätzen, auf denen wir immer gesessen haben in den letzten zehn Jahren. Sie hatte zwei Cappuccino vorbereitet in französischen Kaffeeschalen. Es hätte ein schöner Moment sein können mit Croissants und einem Gespräch über Vergangenheit, Erreichtes, Schönes, Liebe, Sex. Die Sonne schien ins Fenster und warf Schattenkreuze der Fensterstreben auf den Tisch, die ich mit dem Finger nachfuhr. Früher als Kind, mit dem Matchbox-Porsche in Braun, Metallic, mein Lieblingsauto. Mit großem Spoiler, ein Neunelfer mit breitem Heckspoiler. Ich hatte kein gutes Gefühl, Veronika sah so ernst aus, als hätte sie mir etwas Wichtiges, Veränderndes zu sagen. Wir hätten Revue passieren lassen können, was war. In Fülle eintauchen, in eine Sommerwiese voller Düfte. Über Kinder sprechen, Urlaube, Freunde, Pläne, das Alter. Ich hätte sie angesehen, tief in die Augen und wäre mit meiner Hand über ihre Wange gefahren, sie hätte gelächelt. Sie lächelte nicht, stattdessen liefen ihr Tränen über die Wange, die ich nicht wegstreichen konnte, weil ich nicht wusste, ob ich das durfte. Sie war so weit weg, abgetaucht, hatte eine Mauer um sich errichtet. „Victor“, sagte sie, „Victor, es ist aus.“ Das Spiel ist aus, Deutschland hat verloren, geht vom Platz, geht nicht über Los, spielt nicht im Finale. Ausgeschieden. „Ich habe mich verliebt. In einen anderen.“ Ich nahm die Kaffeeschale und trank. Der Geschmack war intensiv, ein starker Kaffee, das Koffein wirkte direkt. Das heiße Gefühl in der Kehle, weil ich zu schnell trank. Fast hätte ich gehustet. Vom Magen in die Blutbahn zum Herzen, das zu rasen begann. Ich wollte etwas sagen, wollte sprechen, reden, das Unumstößliche mit einem Satz verwandeln in eine Annahme, eine Möglichkeit, etwas Sanfteres als einen feststehenden Beschluss. Sie lächelte. Ich konnte sie nicht ansehen. Sie schien glücklich. Mir war etwas amputiert worden.

Der Hund kam, als hätte er gespürt und ließ sich kraulen. Es klingelte an der Tür, Veronika ging, öffnete, nahm ein Amazon-Päckchen entgegen. Es kam mir unwirklich vor, dass das Leben einfach so weiterging. Dass Postautos fuhren, Telefone klingelten, die Sonne schien. Wieso hielt die Erde nicht einen Moment inne, um mir die Chance des tiefen, sofortigen Verstehens zu geben?

„Ich werde dich immer lieben. Es ist nicht so, wie du glaubst.“ Sie trank kleine Schlücke ihres Cappuccinos und sah mich mit ihrem Forscherblick an, der zu sehen suchte, was in mir geschah. Der Seelenblick. Ich wand mich unter dem Mikroskop, konnte mich nicht preisgeben, wollte keine Mikrobe, kein Versuchskaninchen mit Überdosis sein. Was fühlte ich denn? Ich weiß es nicht, weiß es jetzt noch nicht, hier im Zug nach Paris, wo etwas Neues wartet, was immer das ist. Jürgen sagte, ich würde fliehen. Ich hatte ihn angerufen und gesagt, dass ich meine Sachen gepackt hätte, um zu gehen. Weg. „Überleg dir das gut. Wirf nicht alles weg. Komm erst einmal zur Ruhe. Du solltest jetzt um Gottes Willen nichts überstürzen.“, sagte er. Arschloch. Er hätte sagen sollen „Junge, komm vorbei. Wir besaufen uns und singen schmutzige Lieder. Wir treiben es mit den schönsten Frauen der Stadt und machen die Nacht zum Tag. Wir lassen nichts anbrennen und geben Vollgas.“ Nichts überstürzen. Das hätte er Vater und Veronika sagen sollen.

Den Hund habe ich zurückgelassen, obwohl es mein Hund ist. Ich kann ihm das alles nicht erklären, weil ich es mir selbst nicht erklären kann. Belgien fliegt vorbei, Brüssel. Seit Köln sitze ich im Restaurant und trinke sündhaft teures Bier. Flasche um Flasche. Dazu zwei Whiskey. Die Bedienung schaut, schätzt ab, wie weit ich es schaffe und ob ich dann noch zahlen kann. Ich hasse sie in ihrer zu engen Uniform mit dem aufgesetzten, verlogenen Lächeln. „Darf es noch etwas sein?“, fragt sie mich. Mit einem Unterton des Hinauskomplementierens, weil sie weiß, dass ich sie nicht ausstehen kann und es ihr umgekehrt genauso geht. „Die Bockwurst mit Kartoffelsalat, danke.“

Christine wartet am Gare du Nord. Wir haben zusammen studiert, sie ist nach Paris gegangen. Wir waren kein Paar und doch irgendwie. Oft habe ich mit ihr in einem Bett geschlafen und hätte gerne, aber sie strahlte mir gegenüber eine Aura schwesterlicher Unberührbarkeit aus. Sie roch gut. Immens gut. Lag ich hinter ihr und mein nicht zu verbergender steifer Schwanz forderte mehr, kicherte sie. „Was ist das?“ „Sorry, ist nicht so gemeint.“ „Wer meint das nicht so? Du oder er?“ „Christine, das ist nicht willentlich, das ist eine rein nervlich-hormonelle Regung. Pavlow. Reiz-Reaktions-Schema. Männliche Banalität. Vergiss es, schlaf gut, träum süß.“ Und dann ließ sie es sich nicht nehmen, mit verstellter Vamp-Stimme „Baby, irgendwann werden wir es tun“ in den Raum zu hauchen, um sich dann kaputt zu lachen. Und mit mir ging die Fantasie durch.

Ich werde bei ihr schlafen. Keine Ahnung, wie sie wohnt, lebt. Mit, ohne Freund, Mann, Kind, Hund. Ich habe ihr gemailt, dass ich nach Paris komme, dass ich Probleme habe und eine Unterkunft brauche. Sie hat geantwortet, ich solle kommen, ihr die Ankunftszeit mailen, sie würde mich abholen. 19 Uhr 37. Diese krummen, hässlichen Zahlen stören mich, weil ich sie einfach nicht mag. Wie will man da pünktlich sein? Wer will um 19 Uhr 37 irgendwo ankommen? Ich nicht.

Der Kartoffelsalat ist widerlich. Ich muss an die Kotze vom Tag vorher denken. Falsche Entscheidung. Sämige Kartoffeln, Mayonnaise und ein wenig Alibi-Petersilie oben drauf. Um mich herum Männer und Frauen im Businesslook und im Gespräch mit ihren iPhones, obwohl hier überall Aufkleber mit durchgestrichenen Handys hängen. Alle tuscheln, tippen, gucken, keiner sagt was. iPhones sind keine Handys. Scheinbar.

Paris habe ich mir bislang geschenkt. War nie dort, habe keinen Fuß in die Stadt der Liebe gesetzt. Eine Stunde noch und ich werde dort sein. Ankommen. Was für ein großes Wort. Mein Französisch ist so Olala, Schule, elfte Klasse abgewählt aus Faulheit. Vokabeln. Passte irgendwie nicht in mein Abi-Punktekonzept. Da gab es nichts zu holen. Schulfranzösisch. Bonjour. Au revoir. Madame!

Der Alkohol wirkt, die Mayonnaise. Mir ist schlecht aus den unterschiedlichsten Gründen. „Bitte zahlen!“. Schleppe mich in ein Abteil mit freiem Platz. Erste Klasse, obwohl ich nur ein Zweite Klasse-Ticket habe. Ich schlafe ein, ruckele durch mein Leben bis nach Paris. Irgendwann werde ich ankommen. „Bonjour, Christine! Madame!“

14 Antworten auf „Au revoir.“

    1. Hi Gitta,

      nein, natürlich nicht! Alles, alles ausgedacht… Ich schreibe von meinem heimischen Schreibtisch und nicht aus dem Thalys:)

      Liebe Grüße

      Jens

  1. Hui-
    heftig, spannend, lebendig und traurig und lustig und
    weiter….
    Seufz!
    Wie gehts denn weiter??? :-))
    Ich könnte dir auch ewig zuhören!

    1. Hi Sarah,

      es geht leider nicht weiter. Das ist die Story. C’est tout. Es sei denn, mir fällt mal ein Paris-Kapitel ein:)

      Liebe Grüße

      Jens

          1. Victor in Italy? Amoreee, Aperol, Lichtsammler, Sonnenauf- und untergänge…;-), nein, nein…schon gut! :-)))

          2. Victor kommt auch mit nach Italien. Wir ja immer bunter. Wusste ich noch nicht. Der wollte doch in Paris und so. Soll der mal Pastis trinken, während ich Aperol schlürfe und übers Meer gucke. Muss ein wenig Licht sammeln für kommende Aufgaben.

  2. Hallo Jens,

    heute eine traurig-sentimental-humorvolle Geschichte? Schön, mit leichtem Wiedererkennungsfaktor, nicht zum Lächeln, wie bei der gestrigen Geschichte. Halt wie aus dem Leben.
    Danke für diese Geschichte.
    Deine Geschichten bereiten immer wieder Freude.

    LG
    Annegret

    1. Hi Annegret,

      immer wieder anders. Muss hier ja ein wenig die Spannung halten, damit es nicht langweilig wird im fiftyfiftyblog. Kann eh nur schreiben, was kommt. Fast wie aus dem Leben. Nur Christine hieß ganz anders:))

      Liebe Grüße

      Jens

      1. Einwand, euer Ehren! Projekt Elaine hat immerhin 14 Teile. Und es gibt komplette Theaterstücke, nicht nur Fragmente. Allerdings, qui, die ganz lange Geschichte fehlt. Ist dann eher nicht so mein Ding.

  3. Hallo Sarah,

    Jens hat schon viele Geschichten geschrieben, kurze, lange und noch längere. Wenn man denkt: “Oh, wie geht es weiter?” Dann gibt es nach meiner Erfahrung keine Fortsetzung. Laß Deiner Fantasie freien Lauf!

    LG
    Annegret

    1. Hallo liebe Annegret,

      och, kann sein-kann sein.
      Bin mal optimistisch… jetzt. Freien Lauf lassen klingt nichts desto trotz auch schön!

      Liebe Grüße zurück!
      Sarah

Schreibe einen Kommentar zu Jens Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.