Alea ACTA est oder alles ad ACTA?

Ich hatte lange keine Lust, mich hier im Blog politisch zu betätigen. Das letzte Jahr war unruhig genug und Christian Wulff hat mich nicht genügend inspiriert, um über ihn zu schreiben. Das überlasse ich gerne Spiegel Online, die das wunderbar machen. Wie ein Terrier hängt das Magazin dem BP an der Wade. Arme Socke, könnte man sagen. Muss man aber nicht und werde ich nicht. Das ist dann doch eher Zauberlehrling: Die Geister, die ich rief oder wie naiv kann ich als Politiker sein. Ich werde später auf Deutschlands bekanntesten Urlauber, Handynutzer, Schnäppchenjäger und Eigenheimbesitzer zurückkommen.

Zunächst aber ein anderes Thema. Das Anti-Counterfeiting Trade Agreement, kurz ACTA, (dt. Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen). Wo Pirtaterie im Namen vorkommt, dürfen die Piraten natürlich nicht fehlen. Ich hatte mich im Stillen immer gefragt, was diese Partei für eine Daseinsberechtigung hat und weshalb da schon wieder Parteien gesplittet werden. Nun weiß ich es. Weil es einen Demokratiebereich gibt, der sich Internet nennt. Ein Universum, das so groß ist, dass Vasco da Gamas & Co. lossegeln, um Kolonien zu entdecken. Der kampf des 21. Jahrhunderts ist entbrannt, es geht darum, wer die Lufthoheit an sich reißt. Ich werde martialisch, kriegerisch, weil wir in aggressiven Zeiten leben. Irak, Afghanistan, Somalia, Ägypten, Jemen, Libanon, Syrien und WWW.

Nun kam letzte Woche Jim nach Hause. Er erzählte vom Geschichtsunterricht seiner neunten Klasse. 30. Januar 1933. Die Wahl, der Erfolg, der Brand des Reichstages, die Notstandsgesetze, das Ermächtigungsgesetz und fertig war die Diktatur. Deutschland hatte seine junge Demokratie aus den Händen gegeben. Demokratie gegen Diktatur eingetauscht. Der dämlichste Deal aller Zeiten. Heute fragt man sich mit der “Gnade der späten Geburt”: Wie konnte man nur so ausgesprochen dumm sein? (Gibt ja noch genügend Glatzen, die das immernoch für ein gutes Modell halten).

Wir unterhielten uns über Demokratie und wie so etwas passieren kann und aus meinem Kopf sprudelten die Erklärungsversuche des Standardprogramms. Mein Kopf will sich mit dem alten Scheißscheiß nicht mehr wirklich auseinandersetzen. Die Bilder der Entnazifizierungsfilme, die ich mit 13 in der Schule gesehen habe (“Ein Tag im KZ” vor der Frühstückspause – Danke auch!), reichen mir bis in die nächsten zehn Leben. Das Politikermantra “Das darf nie wieder geschehen” ist eintätowiert. Ich habe verstanden.

Am nächsten Tag kam Jim dann: “Papa, kennst du ACTA? Die wollen das Internet zensieren und ein Großteil der europäischen Länder hat schon zugestimmt.” Ich musste passen. Erzählte was von amerikanischen Gesetzen, die gerade gekippt würden und ich könne mir nicht vorstellen… Ich ging ins Büro, um zu arbeiten, da lag schon eine Mail von Jim im Postfach. Über eine Etage runtergeschickt. ACTA. Das Abkommen. Tatsächlich ein Thriller. Mit allem, was dazugehört. Geheimverhandlungen mit Lobbyisten.

Ich habe mich eingearbeitet, habe Spiegel Online zum Thema gelsen, Wikipedia. Las von Polen, wo die Hölle los ist wegen des Abkommens. Ich erinnerte mich an meine Geschichtslehrerin, die immer sagte, es gäbe in Europa kein freiheitsliebenderes Volk als die Polen. Auch wenn die sich in den letzten Jahren manchmal arg verwählt haben. Nun: Die Polen wissen aus ihrer Geschichte heraus, was es bedeutet, wenn Freiheit bedroht wird. Wenn man zwischen Großmächten eingekesselt ist, die einem ans Leder wollen. Einmarsch. Hand drauf. Fahne hissen. Claim abstecken. Aufteilen. Also zeigen sie bei ACTA eine allergische Reaktion. Sie sind das Indikatorpapier zur Aufdeckung schleichender Übernahmeprozesse.

Am Wochenende gingen also deutschlandweit junge Menschen gegen ACTA auf die Straße. Die Piraten organisierten, machten, taten, während die großen demokratischen Parteien versuchten zu verstehen, was das Internet überhaupt ist. Mich beschleicht das Gefühl: Da gibt es viele gewählte Volksvertreter/innen, die können das gar nicht denken. Die sind nicht eingestiegen und begreifen nicht, was los ist. Zudem sind sie arg beeinflusst von Lobbygruppen wie der Musikindustrie, die am liebsten Zäune aufstellen würden und Mauern errichten und Online-Gefängnisse – www.guantanamo.com.

Auf Netzpolitik.org erschien gestern ein interessanter Bericht, wie die Lobbygruppen arbeiten. Den Demonstrierenden wird vorgeworfen, sie würden “demokratische Institutionen” angreifen. Super Versuch, das Mittel der Demonstration als apolitisch und konterrevolutionär zu geißeln. Hallo, wo leben wir?

Die Jungen, die, denen wir immer vorgeworfen haben, sie seien so apolitisch, die gehen auf die Straße. Sehen die Gefahr der Einschränkung des Internets durch Interessenpolitik, weil sie das Internet kennen. Mit ACTA hätte es wohl kein Wikileaks gegeben, weil das Copyright der veröffentlichten Unterlagen sicherlich nicht by Assange lag. Und was hätten wir dann alles nicht erfahren? ACTA ist der Einstieg, die schwammige Formulierung, der unbeholfene Erstling, der als Handelsabkommen getarnt ist und doch letztlich dazu taugt, Macht im Internet auszuüben. Big brother is watching you und der große Bruder bestimmt darüber hinaus. Chinesische Verhältnisse? Was wäre aus dem tunesischen und ägyptischen Fühling ohne ein freies Internet geworden? Bekommen da Leute kalte Füße? Lieber mal eine Hand drauf haben…

Ich persönlich freue mich sehr, dass es in Deutschland die Piraten gibt, die sich dem Thema annehmen und dass junge Menschen letztlich für Demokratie auf die Straße gehen. Internetfreiheit als die neue Pressefreiheit. Die Freiheit des Internets ist unantastbar. Solch einen Artikel gibt es noch nicht. Die Politik hat da ein paar Dinge noch nicht verstanden. Aus Unwissenheit? Weil die Akteure zu alt sind? Nicht auf dem Stand der Zeit? Hey. Hier wird gerade Geschichte geschrieben. Hier werden Weichen für etwas Größeres als den illegalen Musikdownload gestellt. Da kann man nicht mal eben ahnungslos das Händchen für etwas heben.

Schade, dass wir gerade keinen Bundespräsidenten haben, der da einschreitet und die Stimme erhebt. Denn: Wer würde ihm glauben? Wo ich mir schon einmal erlaube, politisch zu werden, möchte ich zum Abschluss gerne noch dafür plädieren, das Amt des Bundespräsidenten geeigneter zu besetzen. Muss ja kein Kind von Traurigkeit sein, aber ein Bundespräsident, eine Bundespräsidentin, der/die aus Überzeugung agiert. Nicht aus persönlichem, bereichernden Kalkül. Nicht raffen, geben.

Durban wie es singt und lacht.

Da treffen sie sich also zum UN-Klimagipfel im südafrikanischen Durban. Um zu reden. Über Kohlendioxid-Einsparungen. Immerhin, China bewegt sich. Ab 2020 könnte man sich einer Regelung in Form von Kyoto II unterwerfen. Bis dahin wolle man als Entwicklungsland gelten und als solches sein Recht auf wirtschaftliche Entwicklung mit allen Konsequenzen nutzen. Und so lange China nicht bereit ist, sich festzulegen, solange werden sich auch die USA nicht festlegen. Beide Länder zusammen emittieren über 40 % des gesamten Kohlendioxidausstoßes dieser Erde. Und sie stehen für rund 37 % der weltweiten Wirtschaftsleistung. Also wissen sie genau, weshalb sie da nicht gerne etwas unternehmen möchten. Es geht für alle Beteiligten darum, Geld zu verdienen. Und das ist bislang mit Kohlendioxidausstoß einfacher als ohne.

Das bedeutet: Es passiert erst einmal nichts.

Stand der Forschung ist, dass sich ein globaler Temperaturanstieg von unter 2 Grad Celsius nur bewerkstelligen lässt, wenn die globale Pro-Kopf-Kohlendioxid-Emission auf unter 2,5 Tonnen pro Jahr fällt. In Deutschland sind wir bei 10, in Amerika bei 20. Der Wert für China liegt aufgrund der großen Bevölkerung bei 3,9 Tonnen pro Kopf und Jahr. Im letzten Jahr sind die Emissionen weltweit um 5,9 % gestiegen, in diesem Jahr werden es 3,1 % sein. Wachstum also. Zunahme. Zunahme und Tsunami klingen scheinbar nicht von ungefähr her ähnlich. Schließlich soll die Weltbevölkerung bis 2050 auf neun Milliarden Menschen wachsen. Mehr Menschen, mehr alles.

Also nichts Neues. Weder im Westen noch im Osten noch im Süden noch im Norden. The same procedere as at every UN-Klimagipfel. Scheinbar sind die gesamten Delegationen mal wieder nahezu umsonst um den Erdball geflogen. Was für eine Klimabilanz wohl so ein UN-Gipfel hat?

Ich frage mich, was soll werden? Zurücklehnen? Kopf in den Sand stecken? Sich auf den Lorbeeren ausruhen, die sich Deutschland erarbeitet hat? Immerhin konnten wir im Klimaschutz-Index 2012 hinter Großbritannien den zweiten Platz belegen. Obwohl wir immernoch so viel Kohlendioxid ausstoßen wie ganz Afrika zusammen. Der Klimaschutz bleibt eine Herausforderung, der die Menschheit bei weitem noch nicht gewachsen ist. Was jeder einzelne beitragen kann, um auf 2,5 Tonnen pro Jahr zu kommen, zeigt der WWF-CO2-Rechner. Es gibt noch viel zu tun. In Durban wird es nicht getan.

Ruhe bewahren! Bewahren Sie die Ruhe!

Jetzt muss ich mich doch mal wieder einmischen. In die große, weite Welt der Politik. Also nehme ich mein Megaphon in die Hand und rufe euch allen dort draußen an den Bildschirmen zu: Ruhe bewahren! Bewahrt die Ruhe! Sonst, ja sonst, werdet ihr einfach verrückt. Denn egal, was man liest, es ist letztlich Schwachsinn. Da draußen sind zur Zeit cirka 150.000 Milliarden Meinungen unterwegs, wie diese ganzen Krisen zu lösen sind. Jede und jeder schreibt darüber, hat eine hundertprozentig fundierte Meinung. Boah, geht mal in die Spiegel Online-Foren. Die Welt der Sachverständigen und Experten. “Das zentrale Problem ist doch…” Und alle widersprechen sich. Es ist eine einzige Kakophonie. Journalliengeblubber, Windspielgesang, Kaffeesatzleserei. Idiotie.

Manche freut der ganze Medien- und Finanzterror natürlich: Die Zeitungen haben permanent etwas zu schreiben. Halten das Spiel zwischen Hoffen und Bangen am Leben, malen die Katastrophe an den Himmel und schreiben dann wieder, alles ist auf einem guten Weg. Zuckerrohr und Peitsche. Die Börsen bewegen sich im Rhythmus von Ebbe und Flut. Gehen rauf und runter. Und bei jeder Transaktion ist jemand, der verdient. Eine kleine Gebühr hierfür, eine kleine Gebühr dafür. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Morgens habe ich immer einen newsletter vom Handelsblatt im Postfach. Da werden die großen Zeitungen und Finanzportale zitiert. Würde man denen glauben, wären der Euro und die Eurozone längst mausetot. Das Merkwürdige ist aber, wie in jeder Krise, dass irgendwann sich die Dinge scheinbar wie von selbst gelöst haben werden. Vielleicht aus einem so profanen Grund wie dem, dass alle den Spaß an der Aufregung verloren haben. Dass ein neues Spielzeug her muss. Ist doch wunderbar, wenn man so ein Krisenthema hat, dann können alle behaupten, sie wüssten, wie die Welt läuft. Können Thesen schmieden, veröffentlichen, raushauen, rausposaunen und zwei Wochen später heißt es: Was interessiert mich mein dummes Geschwätz von gestern.

In Köln gibt es diese wunderbaren Kopf-in-den-Sand-Gebote, die dann doch viel Wahrheit in sich tragen. Die stehen sogar am Kölner Flughafen an den Glaswänden der Eingangshalle (wenn man vom Flieger wieder reinkommt):

1. Et es, wie et es
2. Et kütt, wie et kütt
3. Et hätt noch immer jot jejange
4. Wat fott es, es fott
5. Et bliev nix, wie et wor
6. Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domit
7. Wat wellste maache?
8. Maach et jot, ävver nit ze of
9. Wat soll dä Quatsch
10. Drinkste eine met

Scheinen auch derzeit viele nach zu handeln. Die Konsumlaune in Amiland und Deutschland ist hervorragend. Die verbreitete These dazu – es bleibt ja überhaupt gar nix unkommentiert – lautet: Die Menschen wollen ihr Geld nicht anlegen, weil sie Anlagen nicht trauen. Also weg damit. Scheinbar wird der ganze Beklopptenzirkus nicht so ernst genommen. Schon wieder Krise? Schon wieder Angstsparen? Ach was. Raus damit. In die Läden. Offensive. Zum Angriff. Törö. Und damit wird wieder Geld verdient und es werden Steuern bezahlt und Mama Staat ist wieder flüssig. Oder so. Oder auch nicht. Oder ganz anders. Oder es kommt der IWF oder die Schulden kommen in die Tonne oder wie auch immer. Ist doch egal. Scheiß drauf, auf diesen ganzen Finanzfirlefanz. Es ist Adventszeit. Zurücklehnen, Füße hoch, Kekse backen, Orangen futtern, Glühwein schlürfen, freudvoll Geschenke kaufen und basteln und die Krisen der Welt Krisen der Welt sein lassen. Die kommen ganz gut ohne uns zurecht. Ich für meinen Teil setze mich jetzt oben auf die Bank, schaue aufs Meer, futtere ein paar süße Früchte und denke mir: Wat soll dä Quatsch.

99 %

Eine Zahl, ein Zeichen. Formiert sich eine Bewegung? Die Menschen in Amerika haben den Anfang gemacht. Occupy the Wall Street. 1999 war ich dort, bin die Straße entlang gegangen. Die amerikanischen Stars & Stripes glänzten in der Aprilsonne. Frühling an der Wall Street. Noch alles in Ordnung.

Vorher war ich das erste Mal in meinem Leben in einem Starbucks und konnte es nicht fassen. Eine riesige Kaffeeauswahl. Ledersessel. Zeitungen. Ich saß mit einem Obdachlosen und einem Banker an einem Tisch. Die Schuhe des Mannes im Anzug hatten sicherlich so viele Dollars gekostet, wie… Die beiden saßen in Eintracht da. Lasen beide die Zeitung. New York Times und Wall-Street-Journal. Wer was, könnt ihr euch denken. Der eine hatte Plastiktüten, der andere eine flache Aktentasche. Mein Blick wanderte hin und her und konnte es nicht fassen. Ein Tisch, zwei Welten. Erde und Mars. In Harmonie oder in unüberbrückbarem Desinteresse erstarrt? Keine Ahnung.

Seither ist viel passiert. Viel Starbucks-Kaffee ist die Kehlen der Amerikaner in New York und überall im Land hinuntergeflossen. Türme sind gefallen, Industriezweige gestorben, Blasen geplatzt. Zum Beispiel die Erwartungsblase Obama. Friedensnobelpreis. Bush ist gegangen und in das Vakuum seiner aggressiven Position ist die Tea-Party getreten. Sarah Palin. Wohin gehst du, Amerika?

Viele Menschen in Amerika gehen in die Armut. Weil der Hypotheken-Deal geplatzt ist, mussten viele ihre Häuser verkaufen. Wurden die Häuser von vielen verkauft. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie nie. Das Land tritt auf der Stelle und immer mehr Menschen der Unterschicht, der unteren Mittelschicht, der Mittelschicht fühlen sich verschaukelt. Amerika kann seinen Traum kaum mehr stemmen. Der Preis des Anti-Terror-Kampfes an den Fronten Afghanistans und des Iraks sind hoch.

Wir sind 99 %. Skandieren sie. 1 % sind die Reichen des Landes, die mit ihrem Geld und ihren Lobbyisten die Politik bestimmen. Es scheint, als wäre alles gekauft. Als würde nichts gehen, was den Menschen hilft. Krankenversicherung. Obamas Ziele eines gerechteren Amerikas? Verdampfen in den Streitigkeiten mit den Republikanern. Graue Haare hat er bekommen, der Präsident. Ergraut über Nacht.

Am Samstag ist die Bewegung zaghaft nach Europa, nach Deutschland übergesprungen. Camps in Berlin, Frankfurt, Hamburg… Vor den Banken. Und nun? Was soll geschehen? Die Banken sollen zahlen, aufkommen für den Schaden, den sie in den letzten Jahren angerichtet haben. Es soll Gerechtigkeit einziehen. Die Politik ist aufgesprungen auf den Zug. Zerschlagung von Banken wird gefordert, die Einführung einer Transaktionssteuer. Klingt gut.

Nur: Bringt das was? Ich habe den Durchblick total verloren. Und ich glaube, alle haben das. Wer weiß denn jetzt noch, an welchem Hebel gezogen werden muss und was was bringt? Deshalb freue ich mich über die 99 %. Die geben mir das Gefühl, das jetzt frischer Wind in die Diskussion kommt. Das Zeichen am Himmel: Dieses Finanzsystem macht die Menschen weltweit unglücklich, weil es uns von einer Krise in die andere schubst. Weil es Arbeit gibt, dann nicht, dann Kurzarbeit, dann ist kein Geld für dieses da, dann für jenes. Dann geht es hoch, dann liegt es am Boden zerstört da. Löcher werden gestopft, Auffangbehälter hingestellt, es wird dort ein Flicken aufgeklebt, hier eine Schnur gespannt, um irgendetwas festzuzurren. Lecks, verschwundenes Geld, falsche Entscheidungen, merkwürdige Finanzprodukte, Rettungsschirme regnen vom Himmel.

Ich denke, es müssten mehr Menschen auf die Straße gehen, um für Bewegung zu sorgen. Um zu zeigen, dass dieses Herumgeschubse der Menschen so nicht sein kann. Soziale Marktwirtschaft erlaubt kein Verhältnis von 99 % zu 1 %. Das funktioniert nicht. Das beschädigt Demokratie. Es ist an der Zeit, wieder über Gesellschaft zu sprechen. Über Möglichkeiten. Zu diskutieren. Darüber, was wir wollen und wo wir hin wollen. Grundlegend, über Finanzkrisenlösungsgespräche hinaus. Die 99 % Bewegung ist ein sehr guter Anfang…

Blick von der Piper Bar auf Lampedusa.

Ich erlaube mir, das Thema Italien noch ein wenig weiter auszuführen. Vielleicht nenne ich das jetzt einfach Italienwoche im fiftyfiftyblog. Egal. Ich schreibe einfach. Über einen Abend in der Piper Bar. Wir waren den ganzen Tag unterwegs gewesen. Die Kinder waren alleine unterwegs, Ela und ich hatten uns an der Küste eine kleine nette Bucht gesucht. Hatten gelesen. Mein Buch: Maarten ‘t Hart, Der Schneeflockenbaum. Wieder sehr, sehr schön zu lesen. Diese Niederländer, was dieses kleine Land an guter Literatur hervorbringt. Europa.

Ich ging allein in die Piper Bar, um den Sonnenuntergang zu sehen. Aperozeit vor dem Essen. Ist die Sonne untergegangen, leert sich die Bar im Handumdrehen. Vorher: Italienisches Leben. Alle haben ein Birra Media oder ein Spritz, das Modegetränk der Saison. Oder der letzten Saison? Kein Ahnung. Auf jeden Fall ist das Aperol mit Prosecco und einem Spritzer Soda sowie einer Orangenscheibe und Eiswürfeln. Und es gibt Snacks. Oliven, Pizzastücke, Chips. Ich ergatterte einen Tisch in der ersten Reihe und hatte mir Die Zeit mitgenommen, weil ich Lust auf Input hatte. Vorher hatte ich mich mental gewappnet, dass mich dieses erneute Aufbranden der Finanzkrise mit Börsendesaster und so weiter nicht anficht. Also saß ich da, las unter anderem einen Artikel über die Festung Europa, trank Spritz und sah der Sonne zu, wie sie ihren Bogen am Horizont schlug. Irgendwann beleuchtet sie den Felsen rechts der Bucht und lässt dort die einzelnen Bäume schimmern. Dann sieht der Fels aus, als sei er der Rücken eines Dinosauriers, der den Kopf unter Wasser getaucht hat.

Ich las über Europa und dachte an einen mare Artikel über Lampedusa, in dem es um das Schicksal einer Bootsbesatzung afrikanischer Flüchtlinge ging, von denen es nur wenige zum rettenden Ufer geschafft hatten. Sehr bewegend zu lesen. Und als ich so auf das Meer schaute und am geistigen Horizont Libyen, Tunesien, Sudan, Äthiopien, Somalia auftauchten, da fiel mein Blick auf einen schwarzen Mann, der in den Wellen tobte. Klingt jetzt vielleicht kitschig und ausgedacht, aber es war so. Plakativ. Der Mann spielte im Wellenschaum mit seiner kleinen Tochter. Die war vielleicht zweieinhalb und hatte noch diesen Babyspeck und den tapsigen Gang. Sie lief in die Wellen, die Wellen kamen und sie lief unsicheren Schrittes zurück. Im Vertrauen auf ihren Baywatch-Papa, der sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Ein so schönes Bild. Das klare Licht der untergehenden Sonne. Der Mann trug eine Badehose in hellblau und rot. Das Mädchen einen kleinen Rüschenbadeanzug. Die beiden sahen wahrlich nicht wie Flüchtlinge aus. Dennoch musste ich an Europa, Afrika und Lampedusa denken.

Es könnte so schön sein. Die Menschen werden gerettet, kommen nach Europa, spielen mit ihren Kindern lachend in den Wellen. Ich weiß, so einfach ist das nicht. Aber warum eigentlich nicht? Wovor haben wir Angst? Das nicht genügend Platz am Strand oder in der Piper Bar ist? Oder es zu wenige Jobs gibt? Oder was? Ich meine, wenn die Menschen ihr leben riskieren, um nach Europa zu kommen, weshalb helfen wir ihnen dann nicht? Geld überweisen, Entwicklungshilfe schicken – das machen wir doch seit Jahrzehnten. Deutschland schrumpft. Wir haben bald zu wenige Menschen. In der Perspektive einen Mangel. Woran liegt es dann, dass wir Europa versuchen abzuschotten? Welchen Zweck hat das? Ich hab es da in der Piper Bar nicht verstanden und verstehe es auch jetzt nicht. Europa beteiligt sich an Kriegen, um Freiheit zu erreichen. Demokratie. In Libyen, Afghanistan, Irak, im Kosovo. Weshalb können wir Friedens- und Freiheitsarbeit nicht auch gezielt rund um die Flüchtlingsfrage leisten?

Ein großes Thema, bei dem sicherlich die Meinungen auseinandergehen. Für mich war es einfach an dem Abend so etwas wie eine sichtbare Vision eines guten Miteinanders. Klar, schön und weich gezeichnet. Urlaub! Aber dennoch: Warum kann es nicht so sein?