Lesebefehl. Leute, wie Jim und seine Jungs immer sagen. Leute, Leute. Annegret hatte mich im Forum darauf gebracht, als sie Bölls Irisches Tagebuch empfahl. Habe ich mir bestellt. Dazu die Ansichten eines Clowns. Texte, die aus der Nachkriegszeit stammen. Fünfziger, sechziger Jahre.
Ich habe es bislang weder geschafft Grass, noch Lenz, noch Böll zu lesen. Meine literaturgeschichtlichen Studien haben diesen Zeitraum ausgeblendet. Ein Zufall? Hat sich nicht ergeben? Mitnichten. Ein Schutzreflex. Gestern Abend habe ich begonnen, Ansichten eines Clowns zu lesen. Gestern waren die Bücher eingetroffen. Am Abend vorm Ofen nach einer Partie Rommee mit Zoe, die mich ziemlich abgezogen hat (Grrrr – wir spielen seit cirka zwei Jahren. Jede Partie geht bis 1.000 Punkte. Wer 1.000 Punkte auf dem Konto hat, hat verloren. Der/ die andere erhält einen Punkt. Wer insgesamt 20 Punkte hat, gewinnt komplett. Ein Sieg über die letzten zwei, drei Jahre. Momentan steht es 17 zu 16 für mich. Zoe steht seit gestern Abend kurz vor der 17. Ausgleich. Allmählich wird es spannend.), fragte ich sie: Tagebücher oder Clown. Klar, Clown. war nicht anders zu erwarten. Suggestivfrage. Tatsächlich wollte ich zunächst lieber das Buch lesen. Den Mankell habe ich zur Seite gelegt. Mankell vs. Grass, was für ein ungleicher Kampf.
Ich begann zu lesen und wusste sofort, dass er es hat. Dicht, sprachlich intensiv. Und vor allem: Einen 100 Kilometer dicken Unterbau. Gefühlte, erlebte Wirklichkeit als Subtext. Der Mann war sechs Jahre lang im Krieg. Kam zurück, schrieb. Wand sich im Nachkriegs-Deutschland. Die Ansichten eines Clowns sind aufwühlend. Ein authentisches Buch, aus dem Leben, der Erfahrung heraus geschrieben. 253 kleine, eng beschriebene Seiten. Bei Seite 97 habe ich aus Vernunftgründen das Licht gelöscht.
Als Annegret das Wort Böll schrieb, war es für mich ein Flash. Ich habe Böll vergessen. Ignoriert. 1972 hat er den Literatur-Nobelpreis bekommen. Woran erinnere ich mich? Olympische Spiele in München, Anschlag auf die israelischen Sportler. Hubschrauber, Kampf, Explosion. Ich war sieben Jahre alt. An eine Nobelpreisvergabe erinnere ich mich nicht. 1974, Deutschland ist Weltmeister, ja. Großes Kino. Aber ein Literatur-Nobelpreis? Wir hatten kein schulfrei, es wurde nicht gesungen, es wurde kein Böll gelesen, es gab keine Böll Straßenfeste. Es war wie in Ansichten eines Clowns. Bloß nicht in der alten Scheiße rühren. Bloß nicht an die Nazis erinnern, die sich überall wieder eingenistet haben als Wendehälse. Gummimenschen. Schön die Schlaghosen der seventies drüber legen. Die sexuelle Revolte. Sich frei sexen.
Mein Vater trug Koteletten, las den Spiegel und besuchte Operetten. Er sah den Blauen Bock und Musik ist Trumpf. Er erzählte von den wilden Fünfzigern, von Tanzpartys, auf denen er Klavier gespielt hatte. Die Vergangenheit seines Vaters haben wir erst kürzlich besprochen und abgehakt. Zwei Jahre Entnazifizierung in einem englischen Umerziehungslager. 1956 an Darmkrebs gestorben. Innerlich zerfressen. Nun lese ich 2011 die Ansichten eines Clowns. Als wäre ich erst jetzt bereit dazu, als wollte ich Geschichte nachholen. Der Autor trägt den Namen Heinrich, wie mein rettender Gärtner-Opa, der kein Nazi war, aber doch 1945 nach Bonn an die FLAK musste. Scheinwerfer bedienen. Der in Remagen auf den Rheinwiesen gefangen war. Der entlassen wurde, weil er an einem Entlassungstag abseits stand. „Du da, rauf auf den LKW. Du kannst gehen.“ Meine Eltern haben erzählt, wie ihre Väter nach Hause kamen.
Habe ich Böll aus Scham verweigert? Aus Selbstschutz? Weshalb haben wir Böll nicht in der Schule gelesen? Da ist einer, der hat den Blick, der hat eine Meinung, der steht aufrecht in der Zeit und hat etwas zu sagen, und der wird nicht weitergegeben. Kulturerbe. Was können wir froh sein, einen solchen Autor zu haben. Solche Autoren und Autorinnen. Es müsste einen Böll-Tag geben. Gestern starb Christa Wolf. Sie habe ich gelesen, wie viele andere ehemalige Schriftsteller/innen der DDR. Nun gehe ich in der Zeit einen Schritt zurück und nähere mich einem schwarzen Fleck auf meiner Geschichtskarte. Einer Zeit, die für meine Familie so große Bedeutung hat. Wir müssen wissen, was damals nach dem Krieg wirklich los war, um zu wissen, wie wir dorthin gekommen sind, wo wir heute stehen. Das ist Psychologie. Die Psychologie einer Gesellschaft, die sich bis in die Nervenbahnen von uns allen herunter bricht. Da gibt es nach wie vor einiges zu besprechen und los zu werden. Es gibt Dinge, die werden von Generation zu Generation weitergetragen. Wer glaubt, die Besenkammer sei ein guter Ort für Erinnerung, der hat ein Problem. Es hilft nichts, wir kommen nicht daran vorbei, dieses Kapitel auf unserem eigenen Tisch auszubreiten und anzuschauen. Alles andere ist Makulatur. Arabeskes Flickwerk. Schöner Schein. Danke, Heinrich. Von diesen Großvätern kann ich gar nicht genug haben.
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Was habt ihr in der Schule gelesen? Böll gehörte wie Grass zum Pflichtprogramm..
Herzlich
Gitta
Hi Gitta,
ich erinnere mich an Anette von Droste-Hülshoff, viele Balladen, Die Verwirrungen des Zögling Törleß, Dramen, Brecht, Schiller, Fontanes Effi Briest… Eher alte Klassiker, nichts Modernes. Meine Schullesezeit fiel ans Ender der siebziger Jahre, Anfang der achtziger Jahre. Das war sowieso so eine Zwischenzeit. Hippiezeit zu Ende, Kohl-Zeit stand bevor. Aus England kam „No Future“ und „The Cure“ – dunkle Zeit. Komisch. Böll gab es nicht.
Liebe Grüße
Jens
Da fällt mir dann noch Handke ein: Die Angst des Torwarts …
Herzlich
Gitta
Ist doch toll, wie unerschöpflich die Literaturgeschichte ist und was man immer noch für sich entdecken kann!
Ja, das finde ich auch. Wie in der Musik, es gibt immer wieder Neues zu erntdecken. Manchmal eben auch Bestehendes.
Hallo Jens,
wenn Du nun schon mal bei Böll bist, so kann ich Dir, passend zur Jahreszeit, die Geschichte „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ ans Herz legen, die 1970 dann kongenial fürs Fernsehen verfilmt wurde. Ich hab den Film an die zehnmal gesehen habe, denn er wurde immer wieder in den dritten Programmen gezeigt.
Gruß Eva .
Hi Gitta,
ich werde mal sehen, ob ich da dran komme. Danke für den Tipp.
Liebe Grüße
Jens
Hallo Jens,
ich habe mich gefreut, als ich heute Nachmittag Deinen Beitrag zu Böll gesehen habe. Prima! „Ansichten eines Clowns“ kenne ich noch nicht.
Bei uns Zuhause hat man nicht viel über den Krieg geredet. Mein Vater hat gar nichts davon erzählt. Von meiner Mutter weiß ich, daß sie in der Schule „Juden“-Sprüche aufsagen und irgendwelche Sachen sammeln mußten. Meine Großeltern konnte ich nicht zu dem Thema befragen, da ich mit 13/14 Jahren daran noch nicht interessiert war und später war es eben zu spät. Bestimmt hätte mein Opa Zuhause viel erzählen können, denn er erzählte gerne, auch von Kaiser Wilhelm.
In der Schule haben wir Böll oder Grass auch nicht gelesen.
Jens, sag mal, ich glaube ich weiß, warum sich fast niemand im Forum blicken läßt. Du hast geschrieben, daß man im Forum dazu diskutieren kann. Bloß funzt das nicht. Ich habe hin- und herprobiert und komme zwar zu Deinem Beitrag, kann aber nicht kommentieren. Oder ich bin zu doof.
Ich wünsche Dir noch viel Spaß beim Lesen und ein schönes Adventswochenende.
Liebe Grüße
Annegret
Hi Annegret,
wir haben auch nur wenig mit den Großeltern gesprochen. Die eine Oma sagte: Wir haben nichts gewusst. Aber die brüstete sich auch, mit Adolf Hitler an einem Tisch gesessen zu haben. und der Bücherschrank war voller „nationaler“ Literatur. Schiller und Goethe mit Hakenkreuzen. Als Germanist sollte ich die erben, habe aber dankend abgelehnt. Die andere Oma sagte, die Frau von Heinrich, als „Holocaust“ im fernsehen lief: Wir haben das gewusst. Die sind abgeholt worden. da wusste jeder, dass die nicht mehr zurückkommen. Eine sagen wir mal einfache Gärtnersfrau. Schluck.
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Liebe Grüße
Jens
Wir sprachen durchaus über den Krieg, allerdings glaube ich, bin ich auch einige Jährchen älter :-). Mein Großvater mütterlicherseits wurde gezwungen in die Partei zu gehen, weil seine Mutter eine „Bibelforscherin“, Zeugin Jehovas gewesen war. Meine Großeltern väterlicherseits hatte in ähnliches Problem, weil die Mutter meines Großvaters Menonitin gewesen war. Die Tante meines Vaters, die Schwester seiner Mutter, sollte „abtranspotiert“ werden, weil sie als Gelehrte, sie hatte ihre Dr. in Physik und Medizin, mit den Amerikanern kommunizierte. Ein Kollege, ein Freund von ihr, erkannte sie und holte sie aus dem Zug wieder heraus. Was mit ihr geschehen wäre wenn… keine Ahnung.
Meine Eltern waren jung als der Krieg gewesen war. Mein Vater machte mit 17 Notabitur, kam zur Luftwaffe und ehe er fertiger Pilot war, war der Krieg zu Ende, Flugzeuge gab es da sowieso keine mehr oder nur wenige.
Meine Mutter musste den Kram der BDM, Arbeitsdienst und alles was dazu gehört mitmachen.
Beide, also meine Eltern, sagten übereinstimmend, dass sie wohl wussten, wenn jemand fehlte, dass diese abeholt worden waren und nie mehr zurück kamen, aber was wirklich mit ihnen geschah, das wussten sie nicht. Manchmal wurde hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen. In der NSDAP waren beide nicht gewesen.
Ich finde das ist eine schwierige Zeit und eine schwierige Frage. Stellt Euch vor es gäb nur eine Zeitung, ein Radiosender und beides gesteuert. Nein, keine Entschuldigung, eine Feststellung. Die Generation meiner Eltern war damals jung und es mag seltsam klingen, aber wann immer der Krieg eine Lücke ließ haben sie versucht das Leben zu genießen, auch wenn es sich mehr als makaber anklingen mag.
Ich habe das KZ Buchenwald gesehen, das auch als Vorzeigelager für das internationale Abordnungen diente, die den Gerüchten nachgingen, was in den Lagern angeblich geschehen soll, was letztendlich ja auch geschehen war. Die wussten sehr gut wie sie das kaschieren mussten, wie sie die Inspektoren täuschen könnten. Auch keine Entschuldigung, denn es drang doch einiges durch, denn es ist verbrieft, dass England schon sehr früh wusste, was hinter den Mauern geschah.
Meine beiden Großväter waren nicht in diesem Krieg als Soldaten gewesen. Sie wurden zu Hause gebraucht. Der eine damit die heimische Produktion weiter ging, der andere … da muss ich passen, weiß ich nicht.
Übrigens hatten wir diese mit Hakenkreuzen versehene Literatur auch. Wir haben sie entsorgt.
In diesem Sinn ein schönes Wochenende.
Herzlich
Gitta
Jetzt klappt es. Danke.