Während ein Sturmtief über Deutschland fegte, um unsere Köpfe frei und unsere Verklemmungen wegzublasen, während in Köln der Bär am Alter Markt tobte (endlich, endlich…), zog in unserem Dorf eine kleine Schar Unerschrockener los, eine alte Tradition zu begehen. „Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind…“ Von Haus zu Haus. Die Kinder mit Laternen und Fackeln vorne, die Paps und Mams als grooviger Backround-Chor dahinter. Dieses Mal bei einem Wetter, das einem die Schuhe ausgezogen hat. Wind, Sturm, peitschender Regen. Der Mann am Boden hat nur Lumpen an, Brrrr. Herrje.
Wie ihr oben seht, waren die Menschen in unserem Dorf nur all zu bereit zum Teilen. Es waren diesmal nur 14 Kinder, die Taschen voll Sweets nach Hause getragen haben. Und Geld. Das gibt’s auch immer. Fast 20 Euro pro Kind. Respekt. Die Süßigkeiten sind für die gerechte Aufteilung erst einmal bei uns im Schulzimmer gelandet. Da, wo früher die Kinder des Dorfes von der ersten bis zur achten Klasse von vorne nach hinten geordnet gesessen haben. Eine Nachbarin gab mir ein Foto, das ich nicht veröffentlichen kann, weil ich damit Persönlichkeitsrechte verletzen würde. Wenn unsere Schule 2014 150 Jahre alt wird, werden wir es in einer kleinen Ausstellung zeigen.
Nun liegt da dieser Haufen Sweets. Weil einige Familien das Wetter gescheut haben, war die Zahl der Kinder kleiner als der Berg der Gaben. Das reicht für zwei Jahre bei normalem Konsum. Pst, Geheimscheiß: Wir werden bei unseren Kids Sachen verschwinden lassen… Das freut sonst nur den Zahnarzt mit seinem „Fucking Gitarrenladen“. Der Gute.
Während wir uns durch das Wetter quälten, was zu Mitleidsbekundungen an allen Türen führte, wurden wir Erwachsenen mit Alkohol getröstet. Zum Ende hin gingen die Frauen vor, um die Kinder ins Warme zu bringen. In die warme Blockhütte in der Dorfmitte gleich neben dem Buchenwald mit den 350 Jahre alten Bäumen. Dort gab es Kakao und Waffeln. Große Augen, glänzende Gesichter, großer Hunger. Derweil waren wir Männer beschäftigt, uns mit den Alten zu unterhalten. Die trifft man nicht so oft. Und die wollten gerne die Gelegenheit nutzen, einen gepflegten Schnaps zu trinken. Korn. Pah! Puh! Gestandene alte Kerle. Straßenbauer mit Unterarmen wie… Anstoßen mit einem „Männer“ und einem Lächeln. Rituale des Dorfes. Wie haben die sich gefreut, uns zu sehen. Die jungen Männer. Im Vergleich. Nicht nur wegen des Schnapses. Es war schon ein wenig wie im Western. Whiskeygläser im Saloon. „Männer“. Wir haben die Kurve gekriegt, das Feuerwasser überstanden und sind aufrecht im Blockhaus gelandet. Absprung im rechten Moment. Das nennt man Timing, die Haaresbreite zwischen alles bleibt gut und ihr wisst schon. Alka Seltzer. Raues Dorfleben, alte Zeiten.
Auf jeden Fall ist es immer wieder schön, mal fast alle Dorfbewohner an einem Abend gesehen zu haben. Kurze Gespräche zwischendurch. Die Lieder, die Kinder, der Feuer- und Kerzenschein. Teilen. Zeit teilen. Sankt Martin. Gut. Bis zum nächsten Heiligen. Am St. Nikolaus sehen wir dann viele wieder. Euch wünsche ich einen sturmfreien Tag, an dem ihr vielleicht schöne Zeit mit netten Menschen teilt. Vielleicht nicht gerade bei Schnaps. Ciao.
Übrigens war ich kurz auf Youtube, um die von den Eurythmics geklaute Überschrift, sagen wir mal zitierte Überschrift, live zu erleben. Dort bin ich auf eine Rough-Version des Songs getroffen. Überraschend. seht und hört selbst: Sweet Dreams.
Hallo Jens,
die Dresdener Mädels hätten sich aber etwas Warmes anziehen müssen, wenn sie im aktuellen Sturm gestanden hätten!
Bei uns gibt es auch Martins-Umzüge, meist in den Kindergärten oder Schulen. Die Tradition des Von-Haus-zu-Haus-Gehens ist nur noch erhalten bei den Stern-Singern zu Heilige-Drei-Könige. Normalerweise bekommen die Kinder Süßigkeiten und Geld für soziale Zwecke. Es hat sich aber bereits eingebürgert, daß Süßigkeiten auch für soziale Zwecke verwendet werden. So ändern sich die Zeiten.
Bei euch im Dorf muß das ja ein Riesenspektakel gewesen sein, wenn fast das ganze Dorf auf den Beinen ist, Jung und Alt, und bei Sturm. Wunderbar!
Viele Grüße
Annegret
Hi Annegret,
unterwegs waren nur wenige. Aber wir sind ja zu den Menschen gegangen, die uns schon erwartet hatten. Alles stand in den Häuser bereit. Martinssingen immer am 11.11. ab 17 Uhr. Bei jedem Wetter.
Liebe Grüße
Jens
Kurze Rückmeldung aus dem ostwestfälischen Löhne. Auch hier hat das Martins-singen eine lange Tradition. Die kids gehen von Tür zu Tür und singen, bekommen Süßigkeiten- die Konfirmanden sammeln jedes Jahr für Bot-für-die-Welt. Das Ganze findet allerdings am Vorabend zum 11.11. statt und ist dem evangelischen „Heiligen“ Martin-Luther gewidmet, daher auch Martin-Luther-Singen genannt. Die ganze Tradition hat vermutlich eine anti-katholische Richtung gehabt im tief protestantischen Ostwestfalen… Halloween hat deshalb hier wohl auch keine wirkliche Chance. Da gab’s kein Singen und weder Süßes noch Saures. Hier ist die Welt noch in Ordnung, haha…
Weiterhin viel Spaß beim Dorfleben!
Gruß, Uta
Hallo Uta,
wir schalten zu unserer Vor-Ort-Reporterin ins Westfälische Löhne: „Uta, wie sieht es aus, haben sich die Gustav-Adolfschen-Haus-zu-Haus-Truppen bereits formiert?“. Das Westfälische und das Rheinische liegen ja bekanntlich im Stimmungs-Clinch. Das katholische voller Frohmut, das liberal-evangelische Westfalen eher trocken. Wir liegen hier mit unserem Dorf ziemlich exakt an der religiösen Wetterscheide. Die Menschen sind überwiegend evangelisch, was einige Kilometer weiter im „schwarzen Land“ ganz anders aussieht. Hier sind die Menschen also protestatisch liberal mit einem Hang zum kölschen Feiern. So in der Weise das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Daher scheint es auch kein Problem zu sein, einen katholischen Heiligen zu besingen. Warum auch? So lange er für den halben Mantel keinen Ablass verlangt:) Halloween hat hier natürlich auch keine Chance. Einige Kinder haben das mal probiert, aber da gab es an der Tür direkt verbal Saures „Ihr Blagen“. Da bleibt das Dorf traditionell auf Linie.
Liebe Grüße
Jens
P.S. Hattest du das Stück bekommen? Ich hatte es dir gestern zugemailt.
Hört sich nach ’ner gesunden Mischung an, da bei euch… ;) In meiner vorletzten Heimat im Ruhrgebiet (konfessionell fiftyfifty) gab’s auch den Martinsumzug mit Pferd und Mantel, aber kein Martin-Luther-Singen. Deutschland, ja sogar NRW, ist doch provinziell-kulturell ganz schön vielfältig. Gut so!
Als Kind habe ich in der Eifel gewohnt. Da war alles total katholisch. Wir kamen aus dem Münsterland dahin – als Protestanten. Unsere Kirche war ziemlich hutzelig und man hielt uns tatsächlich für eine Sekte. Manche fragten „Gehört ihr zu den Blauen?“. Ich denke, das hat mit der Schwedenfahne und dem dreißigjährigen Krieg zu tun. Der war ja schon ein paar Tage rum. Ich hatte dann eine Freundin von der Mosel, deren Eltern eine Verbindung mit einem Blauen gar nicht gut fanden. In der Kirche saßen dort Männer und Frauen getrennt. Wie das dort wohl heute aussieht? Ob da was von der neuen Zeit über die provinziellen Grenzen gehuscht ist? Ich nehme es an. In Zeiten von Internet. Gut so.