Ende der Gemütlichkeit

Gestern kam Jim mit leuchtenden Augen aus der Schule nach Hause. Ich hatte am Morgen den Text über das Mitgefühl für die Menschen in Japan geschrieben. Er sagte: „Papa, die ganze Klasse fährt nach Berlin zum Demonstrieren.“ Sie haben das gestern organisiert. Die Schüler und Schülerinnen der achten Klasse. Aus der Schule heraus per Handy Sponsoren gesucht, die den finanziellen Part übernehmen, die Reisekosten. Für Morgen haben sie den Handarbeitsraum bei der Handarbeitslehrerin gebucht, um Stoffe in Spruchbänder umzunähen. Jim hat aus dem Internet das Zeichen für Radioaktivität heruntergeladen, um daraus Schablonen zu fertigen. Hat unseren Werkzeugkasten geplündert, den Tacker geladen, um die Stoffe an Latten fest zu tackern. So engagiert, tatkräftig und begeistert habe ich ihn lange nicht gesehen.

Ich habe ihn gefragt, weshalb sie nicht nach Köln fahren, wo auch eine große Demonstration stattfinden wird. Seine Antwort: „Wir wollen vor dem Reichstag demonstrieren, dort, wo die Gesetze gemacht werden.“ Letztes Jahr haben wir mit ihm den Reichstag besichtigt, nun wird er davor gegen Atomkraft demonstrieren. Zoe will nach Köln. Die Kids haben die Nase voll. Sie wollen nicht in einer Welt mit Atomkraftrisiken leben. Jims ganze Klasse fährt. Alle 38 Schüler und Schülerinnen. iPod-Generation? Unpolitische Generation? SchülerVZ-Generation?

In den letzten Jahren sprachen Trendforscher vom Rückzug ins Private, von Cocooning und Homing. Die Menschen blieben Zuhause in den eigenen vier Wänden und versuchten, es sich schön zu machen. Der Absatz von Multimedia- und Homekino-Centern schnellte in die Höhe. Die Fernseher wurden immer größer. Fußballfelder in Originalgröße. Und jetzt das. Die Welt wankt, bricht, stöhnt auf, zerwirft, zermalmt. Kein Stein steht mehr auf dem anderen, die Nachrichten aus der Welt überschlagen sich. Was in normalen Zeiten tagelang die Titelseiten geprägt hätte, tritt nun bescheiden in den Hintergrund. Libyen, Bahrein, die Zerschlagung eines Kinderpornorings mit Befreiung von 230 Kindern (Spiegel Online), Euro-Krise. Was machen eigentlich Tunesien und Ägypten? Irak? Afghanistan?

Wer sich das alles auf der Wohnzimmer-Großleinwand reinzieht, der dürfte schlaflose Nächte erleben. Mir persönlich reichen schon die Spiegel Online-Berichte. Ende der Gemütlichkeit. Die Welt ist gerade aus den Fugen geraten. Japan ist um drei Meter verschoben, zwei Erdplatten haben sich über- und untereinander geschoben. Ein starkes Bild für das, was gerade historisch passiert. Dieses Jahr 2011 hat seinen Platz in den Geschichtsbüchern sicher. Es wird dann im Rückblick auch das Jahr gewesen sein, in dem die Anti-Atomkraftbewegung in Deutschland massiv an Zuspruch gewonnen hat. So viele sind in Bewegung, werden in Berlin sein. Das freut mich. Sehr. Es tut sich was.

Dennoch hoffe ich, dass da nicht zu viel Zorn freigesetzt wird, der sich dann wieder woanders entlädt. Mit ist gerade zu viel Dynamik im Spiel. Überall auf der Welt. Bahnbrechende Energien. 2011 wird am Ende vieles verändert haben. Ich hoffe, es wird besser sein als vorher. Damit es so sein wird, wünsche ich mir Besonnenheit. Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit auch in Deutschland. Eine Kultur der Achtung. Ich weiß, viele haben auf die Gelegenheit gewartet. Und ich habe das Leuchten in Jims Augen gesehen. Der Wunsch ist da, jetzt etwas zu tun. Das soll auch geschehen. Aber: Mit einem Gefühl der Liebe, die über allem liegt. Das mag butterweich klingen, ist aber mein voller Ernst. Jim werde ich das mitgeben. Oder ich werde mit ihm fahren. Ich weiß es noch nicht…

12 Antworten auf „Ende der Gemütlichkeit“

  1. Guten Morgen, Jens,

    wow, die Jugend demonstriert in Berlin. Stark, kann ich da nur sagen. Eine Klasse legt sich mächtig ins Zeug! Du hast Recht, mit Zorn kommt man bei dieser Sache nicht weiter. Ich glaube, daß das auch Deine Kinder einsehen. Flagge zeigen ja!

    Viele Grüße

    Annegret

    1. Hi Annegret,

      wir leben in zeiten der rasanten Veränderung. Der Jahresrückblick 2011 wird eine spannende Sache. Gerade kommen Dinge ins Rollen, die die Welt verändern. Das ist gut so. Gut in Tunesien, in Ägypten und vielleicht auch in Deutschland. Vieles wird sich nicht aufhalten lassen. Ich glaube auch der Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland nicht. Zu viele Menschen, Wähler/innen lehnen Atomkraft ab. Mit dem älter werden der AKWs in der Welt, mit dem Neubau in Erdbebengebieten steigt das Risiko von Unfällen und Katastrophen. Jedes Mal, wenn wieder etwas passiert – und es wird noch mehr passieren, weil die Wahrscheinlichkeit zunimmt – müssen sich die Pro-Parteien in Deutschland verantworten. Das ist politisches Leben auf Messersschneide. Ich glaube nicht, dass das Parteien wollen. Dass Jim sich jetzt engagiert, find ich toll. Bin schon stolz auf ihn. Gelebte Demokratie.

      Liebe Grüße

      Jens

  2. Sehr gut! Wer zornig ist kann sich von der Gelassenheit und Besonnenheit der japanischen Bevölkerung eine dicke Scheibe abschneiden. Und auch gerade die letzten Wochen haben gezeigt, siehe Ägypten, dass die Mischung aus Achtsamkeit, Gemeinschaftssinn und Zielstrebigkeit Veränderung bewirkt. Danke für ihren Beitrag.
    Herzliche Grüsse, Danièle

    1. Hallo Danièle,

      danke für das Lob. Ich möchte einfach nicht, dass die Welt mit zu viel „Dampf“ betrieben wird. Es muss da noch ein Gegengewicht geben. Ich bin auch gegen Atomkraft und möchte, dass meine Kinder in einer Welt ohne diese Risiken leben. Und ich werde mich auch weiter dafür einsetzen, weil es bessere Lösungen gibt. Nur möchte ich einfach nicht, dass die Auseinandersetzung in Boshaftigkeit abdriftet. Ägypten ist ein gutes Beispiel. Das haben die Menschen da wirklich gut hingekriegt und manches Vorurteil widerlegt.

      Liebe Grüße

      Jens

  3. Hallo, Jens,

    Du, ich fühle mich t0tal missverstanden und so eingeschätzt, als wäre ich für Agression pur. Nun aber sehe mit Erstaunen, dass Du heute genau auf dem Weg zu sein scheinst, den ich gestern vertrat.

    Ich gehe total konform mit Dir, wenn Du sagst, dass blinde Wut uns nicht weiterbringen, denke aber, dass die Triebfeder von Protest immer ein Ausdruck von Zorn ist, der selbstverständlich in konstruktive Bahnen gelenkt werden sollte.
    Mir ging es gestern darum klar zu machen, dass es neben dem Mitgefühl für die Opfer der schrecklichen Naturkatastrophe, die nun noch geradezu apokalyptisch gesteigert wird durch die Folgen menschlicher Überheblichkeit und Fehlbarkeit, die Chance gibt, die Hintergründe einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und aktiv zu werden.
    Wir müssen nämlich höllisch aufpassen, dass uns genau dieselben, die das bisher taten, in ihrer maßlosen Gier nicht erneut über den Tisch ziehen. Hier muss es darum gehen, die aktuelle Chance für positive Veränderung Richtung friedlichere, sorgsamere, solidarischere, die Ressourcen schonende Zukunft zu machen.
    Mein Traum wäre hier eine Agenda der Völker auf den Weg zu bringen.

    Die Kanzlerin hat übrigens gerade eben eine Regierungserklärung abgegeben, die mich – und dazu stehe ich – wieder einmal zornig macht.

    Jeder Mensch geht anderes mit bedrohlichen Situationen um. Der eine wird panisch, der andere geht in sich und holt sich hier die Kraft, die er vllt., so wie Du, weiterschickt an die, die sie brauchen.
    Ich gehöre zu denjenigen, die in solchen Situationen ruhig bleiben und überlegen, was ich im Hier und Jetzt an dem Ort, an dem ich mich aufhalte, tun kann. Und da werde ich dann aktiv. Was soll daran nicht in Ordnung sein?

    Liebe Grüße Eva 2

    1. Hi Eva,

      nein, ich schätze dich nicht als pur aggressiv ein. Als zornig schon. Wir sind da unterschiedliche Temperamente. Es liegt mir auch absolut fern dich zu verurteilen oder zu sagen, dass dein Verhalten in irgendeiner Weise nicht in Ordnung ist. Ich finde das Enagement gegen Atomkraft gut. Für mich ist es nur wichtig, jetzt die Menschen in Japan zu sehen, dorthin zu „atmen“ und den Planeten nicht mit noch mehr Zorn zu überschütten. Aber das empfinde ich nicht gegen dich, sondern mit dir.

      Mir gefällt der Stil im Bundestag überhaupt nicht. Da kommt niemand einen Millimeter weiter. Das ist kein miteinander reden, das ist gegenseitiges beschimpfen. Wahlkampf. Einbetonieren in der eigenen Position. Schuldzuweisungen statt konstruktiver Auseinandersetzung. Verschenkte Zeit. Von allen Seiten. Alle wollen mit dem Kopf durch die Wand und die anderen wegblasen. Scheinbar geht das nicht anders. Helfen tuts nix. Die Gräben werden tiefer, die Positionen einbetoniert. Brücken bauen, Auswege aufzeigen. Nicht rumbrüllen. Mir ist das alles zuviel Demagogie im Bundestag. Ich bin sehr gespannt, in welcher Atmosphäre die Demonstrationen in Berlin, Köln und Hamburg ablaufen werden.

      Liebe Grüße

      Jens

  4. Fehlerkorrektur: Aggression

    Hier muss es darum gehen, die aktuelle Chance für positive Veränderung Richtung friedlichere, sorgsamere, solidarischere, die Ressourcen schonende Zukunft zu ergreifen.

  5. Hallo Jens,

    bestelle Jim bitte, unbekannterweise, ganz viele Grüße von mir und sage ihm, dass ich sein Engagement total klasse, knorke und super finde. Und das seiner Klasse natürlich auch.

    Viele Grüße

    Raoul

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert