Der Blick heute

Blatt Dachfenster_red

Ich habe hier den Film American Beauty schon erwähnt. Es ist die Szene meines cineastischen Lebens, die mich scheinbar am Nachhaltigsten bewegt hat. Ein Hinterhof, eine Plastiktüte im Spiel des Windes. Der Film hält inne, nimmt sich einer Metapher an und lässt diese Tüte hierhin, dorthin bewegen. Man könnte denken, es wäre ein Geschubse oder ein getrieben Werden oder einfach ein sich in die Situation ergeben.

Als ich den Film sah, als die Szene kam, war ich gebannt.

Ich hab später Fotos geschossen. Tumbling. Dinge, die fallen. Das Fallen hat eine Bedeutung. Es ist verbunden mit dieser Tüte aus dem Film.

du fällst nicht

glaubst es nur

die weiche weiche nacht umhüllt dich

wie ein warmes warmes vlies

und wenn du doch fällst

schreibt der wind des falls

dir die gänsehaut

in jeden winkel deines körpers

Nun habe ich kürzlich über das Früher geschrieben. Diese Reise zurück. Dieses Zimmer. Nun. Viele Jahre später habe ich ein neues Zimmer. Eingerichtet, aufgehübscht. Mein Lebensmittelpunkt. Am Wochenende nun waren zwei Dinge geschehen. Einmal, ich saß auf meinen Bett, da hat die Sonne den Mühlenberg gegenüber erhellt. Peng, Licht an, weg. Kurzer Augenblick. Dann hat die Birke im Bild vorne links zwei Blätter auf mein Dachfenster geworfen.

Die hängen dort, imitieren auf der Glasscheibe ein langes Fallen, heben sich von den Wolken ab und spielen TUMBLING. Metaphern des Lebens. Bewegung. Damals. Heute.

Ein Wollknäuel wickelt sich ab, zieht Fäden, von hier nach dort, verbindet die Zeiten. Es ist ein Flug, always.

Blick aus dem Fenster_red

Feuerwehr, Habermas, Foucault und was genau ist passiert?

Parkplatz_red

Ich warne euch vor, bevor ihr zu lesen beginnt.

Dies wird sehr wahrscheinlich ein ein wenig kryptischer Beitrag. Das hängt damit zusammen, dass Texter generell ein wenig schräg sind und das Gehirn nach intensiver Textarbeit wie ein überpowerter Prozessor überhitzt. Das kann zu Fehlfunktionen und Übersprungshandlungen führen. Dieser Text ist eine solche Übersprungshandlung, quasi ein Auslaufen, so wie es die Fußballprofis nach ihren Bundesligaeinsätzen praktizieren. Wirr. Ohne Bedeutung. Wie Blindtext. Lorem ipsum. Was Sie hier lesen, macht keinen Sinn und zeigt nur, dass hier etwas Sinnvolles, zum Beispiel Ihre Botschaft, stehen könnte…

Ein Lauf ohne Bedeutung, rein funktional, vielleicht kleine Gespräche, mit sich selbst, ein wenig Reflexion. Allmählich komme ich hier schräg drauf. Ela ist mit Jens, den Kindern und Herrn Cooper an der Küste. Ferien. Derweil sitze ich hier und schreibe für Geld, weil es einiges zu tun gibt. Zwei Tage war ich in der Agentur unter Menschen, seit Dienstagabend bin ich nun mutterseelenallein hier in den dicken Bruchsteinwänden eingemauert. Verbunden mit der Welt nur über die Kupferlitzen des rosaroten Panthers mit dem Pink-T. Telefonate am Abend. Rettungsanker, Handreichungen, Freundlichkeiten. The immense emotional power of warm and heart beating human beings. Sagte ich doch, kryptisch.

Der Kühlschrank leert sich allmählich, die Textaufgabenliste hat sich deutlich verkürzt und später kommt Frau Vi, mich zu retten. Dem Herrn sei dank. Schön, dass draußen die Herbstsonne scheint und alles in warmes Licht hüllt, das mir in appetitlichen Portionen durchs Fenster gereicht wird, als stünde ich in Konsumerwartung am Fenster des MC-Drive-Schalters. Nee, keine Mayo.

Was es mit dem Foto oben auf sich hat? Ist mir eben in die Finger gefallen. Das ist in Köln entstanden und hatte mir schon gefallen, als ich es gemacht habe. Das war auf dem Weg zum Labor Ebertplatz. Ein Parkplatz von einer Brücke. Der Versuch, Ordnung zu schaffen, die sich in den Spuren menschlicher Präsenz verliert. Alles hat seinen Platz, die Linien bestimmen, die Buchstaben sagen es und doch ist klar: Kein Schwein hält sich dran. FUCK. So isses nunmal. So, könnte man sagen, läuft das Leben. Abkommen werden gebrochen, idiotische Entscheidungen getroffen, Kanzlerinnen abgehört. Ein wenig Bad Boy in uns allen. Schnell noch diese kleine Heimlichkeit ungesehen. Ts.

Jim war mit von der Partie, mit auf dem Weg, hatte auch seine Kamera dabei. Einige Schritte weiter schauten wir von der Brücke herab auf Paare am Strand. In Zweisamkeit in der weiten Welt verloren. Zusätzlich ein Vater mit zwei Kindern am Rande. So isses. Insel der Glückseligkeit. Ein erzählendes Foto, kein Tatort wie oben. Lustig sind die Farben. Zuordnungen. Links ist das junge Paar, sie mit pinkem T-Shirt, er mit schwarzer Haut. Rechts die beiden Frauen, vielleicht Mutter und Tochter, in angeregter Unterhaltung. Sie, Miriam die Tochter, gestikuliert mit ausgestreckter Hand: „Weiß du Mama, er hat sich so verändert. Wir wollten, du weißt, und nun ist irgendwie alles anders. Ich wünschte…“ Oder: „Ich kann mein Glück nicht fassen…“ Die Frau rechts in schwarzer Kleidung, beide auf pinker Decke. Die Farben schaffen Verbindungen, das verloren wirkende Sitzen dort ebenso. So klein sehen sie aus, oben von der Brücke hinunter. Ich hatte kein Stativ und kein Tele. Leider ist die Aufnahme nicht scharf. Husch, husch. Egal. Wozu? Die Geschichte ist die gleiche.

rhine
rhine

Was sagt uns das alles? Zwei Dinge: Erstens findet Leben größtenteils im Kopf statt. Wir machen die Bilder, definieren sie, interpretieren, ziehen Schlüsse und glauben dann an die Wirklichkeit. Zweitens sind es die Menschen, die diesen Bildern ihre Geschichte geben und uns den Anlass, unseren Kopf zu benutzen und die Relationen zu bestimmen. Früher sprachen wir von Philosophie und Existenzialismus. Wir lasen Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft, interessierten uns für Habermas und die Frankfurter Schule und glaubten, irgendwo Strukturen erkennen zu können, die leiten, führen, Sinn geben, retten.

Lest ihr Foucault oder Habermas? Ich auch nicht mehr. Ist das Desillusionierung? Oder Erkenntnis? Nehmen wir an, wir ziehen durch die Welt, so wie Jim und ich es mit den Kameras getan haben, um auf dem Weg zu einem Kunstprojekt die Welt in kleine Rahmen zu packen und sie taschengerecht mitzunehmen, und versuchen, die berühmte Wahrheit zu finden. Was dann? Nichts. Gar nichts. 100% egal. (Haben wir natürlich nicht gemacht, das mit der Wahrheit und dem Finden, wir wollten nur gehen und fotografieren und ankommen. Der angedeutete Tiefendiskurs ist nur Fake, wir bleiben schön entspannt an der Oberfläche, weil ja morgen Feiertag ist. Was feiern wir? Egal. Irgendwas mit Aller. Herzlich Willkommen in der Welt der Entfremdung. Haben wir vielleicht die Wurzeln im christlichen Kontext verloren? Sollte es nicht lieber einen iPhone-Feiertag mit Komplett-Flatrate für alle geben inklusive geschenktem Big-Mac-Menue-XXL? Oh, oh. Er wird zynisch. Böses Vogelzeichen. Keine Sorge, nur ein wenig Sprachspielerei. Zurück.) Wo war ich vor der Klammer? Gebt zu, ihr wisst es auch nicht. Augen hoch und schnell mal nachgelesen.

Ah. Foucault, Habermas, ankommen. Klingt wie die pointierte Zusammenfassung der vergangenen 30 Jahre meines irdischen Lebens.Einfach nur ein paar kleine Details und Arabesken weggelassen. Nun, allmählich kühlt mein Rechenzentrum ab und ich merke, ich falle zurück auf DEFCON 2. So allmählich wieder grüner Bereich oder das, was man so landläufig (was ist das eigentlich für ein komisches Wort?) normal nennt. Gleich stelle ich das Arbeiten ein (morgen Früh muss ich noch frisch eine Runde drehen und mach da für drei, vier Stündchen Allerarbeit draus) und beginne mit der Feierabend-Entspannung. Aufgabenfrei. Die Familienwäsche habe ich gestern erledigt. Drei Maschinen gewaschen und die Wäsche aufgehangen, nachdem ich die von letzter Woche von der Leine geholt hatte. Gefalten ist die nicht, weil wir das im familiären Teamwork machen. Trennen und dann jeder seine, sonst wirste im Zusammenleben mit jungen Menschen im emotional interessanten Alter rechtschaffend bekloppt.

Freunde der guten Unterhaltung und der Herausforderung fiftyfiftyblog, wenn ihr es heute bis hierher geschaftt habt, dann seid ihr echte Eisenbeißer. Congratulations, Orden, Ehrenzeichen, Salut. Peng, Peng. Ich danke allen und insbesondere den Nahestehenden des fiftyfiftyblogs für die wertschätzende Aufmerksamkeit und verbleibe mit aufrechten Grüßen bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt: Und jetzt alle! Hä? War mir so eingefallen. Malle, denk ich. Kurzschluss im Oberstübchen. Egal, Hauptsache, es macht Spaß und dann in diesem Sinne. Nö. Punkt. Ciao, ciao. Und ab dafür… Blauer Schalter rechts, Countdown und veröffentlichen (ist der Ruf erst ruiniert…).

inner circle.
inner circle.

Paul Bowler & Georg Weißbach bei BRUCH & DALLAS

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Nimmt das mit der Kunst hier gar kein Ende?

Nicht, wenn solche Schauspiele geboten werden. Der Blog hier steht zeitlich immer noch auf Freitag und befindet sich weiterhin in der Unterführung am Ebertplatz. Jim und ich kamen gerade aus dem Labor, haben einen Schlenker durch die Galerie BOUTIQUE gemacht und sind geradewegs bei BRUCH & DALLAS gelandet. Eine weitere Vernissage. Diese Stadt ist verrückt. Geradezu barockarrabesk. Überladend großzügig. Die Augen wissen nicht, wohin, der Geist muss galoppieren, um alles zu erfassen.

Wir nähern uns. Eine andere Galerie, ein anderes Publikum, eine andere Vernissage. Bunt hier. Die Wände hinter dem Glas des Schaufensters die Fläche. Die gestaltete. Das Projekt. Das Bild.

Paul Bowler & Georg Weißbach aus Leipzig stellen aus, treten auf. Jim und ich schauen, versuchen zu verarbeiten. Zu viel des Guten im ersten Augenblick. Wir gehen raus in die Unterführung. „Was riecht hier so gut?“ Ah. An der afrikanischen Bar mit den nahezu ausnahmslos schwarzen Gästen steht Restaurant. Klein. Wäre ich nicht drauf gekommen, hätte es nicht so gut gerochen. Wir setzen uns an die Theke. Bestellen, warten, schauen, essen. Tom kommt. Der Engel. Sagt Sachen, die in einem Gedicht vorkommen. Später. Leicht angetrunken, das beflügelte Wesen. Ein Lächeln, nicht von dieser Welt. Ansonsten handfest, Handwerker, Pfleger – von Pflanzen und behinderten Menschen. Das Spiel, die Realität, die Wirklichkeit und das Leben. Sommer 1990. Ganz Deutschland wird Weltmeister.

Paul & Georg lassen mich nicht los. Jim erzählt. „Die arbeiten mit Zitaten. Da steckt viel Internet drin.“ Hat er abgecheckt. Ich frage ihn: „Fahren wir zurück oder schauen wir uns das genauer an? Ich hätte gerne ein Foto von den beiden. Vor der Wand.“ „Gehen wir.“ Also sind wir rüber. Nach einem ziemlich leckeren afrikanischen Essen und einer skurrilen Unterhaltung mit einem Weisen, der Waise ist. Da gehen Filter verloren und Zartheit katapultiert sich durch die geöffneten Schleusen der erinnerten Verzweiflung in ein tieferes Sehen. Wer da war, weiß, wo es ist, wie es ist. Die Nerven sind feinfühliger, bedachter, brauchen weniger Information. Respekt, junger Mann. Der Rausch, ach, beiseite.

Sie lassen sich fotografieren. Paul nimmt sich Zeit, erzählt. Mir und Jim. Ja, mit Internet hat es viel zu tun. Er kommt aus München und lebt in Leipzig. Mit Georg macht er Kunst. Ist es wegen der Vornamen? Ist es wegen dieses britischen Künstlerpaares, diese beiden Männer, dass sie englisch wirken? Als kämen sie aus London? Oder ist es die Kunst, die sie betreiben. Wirkt so metropolenhaft kreischend. Gut.

Mit Büchern haben sie angefangen. Sich ins Zimmer gesetzt für Tage. Tür zu, Sonne raus, Netz an. Sammeln, jagen, Bilder, Zusammenhänge. Bilderbücher sind entstanden. Zwei mit den Titeln Online-Buch und Online-Buch 2. Jim und ich blättern sie durch. Laute Bilder, schwule Szenen, Frauen mit riesigen Brüsten, Persiflagen, Karikaturen, Verarschungen. Spiel mit Klischees. Laut, bunt, frech. HEUTE. Ganz genau heute. Trash im September 2013. Alles da, alles greifbar.

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Mir kommt der Gedanke, dass dieses Webzeitalter mit all den Irrwegen und verschlungenen Entwicklungen Kultpotenzial hat. Verändert hat sich eh alles. Jedes Kind, jeder Teen ist nur Klicks vom Pornomaterial entfernt. Gewalt, Terror, Faschismus, Perversion – alles gute Nachbarn im Web. Gleich nebenan. Porsche, BMW, Siemens, die Deutsche Bank Tür an Tür mit… Der Youtube-Clip von den hippen Youtubern neben allem anderen. Dazwischen Viren, Geldflüsse, Lauscher, Verrückte und Künstler. Wie Paul & Georg. Ihre Bücher gibt es per Print on Demand im Web. 54 € und 55 € das Stück. Die Webadresse?

Keine Ahnung. Ist alles noch nicht so organisiert. Wunderbar. Frisch. Man muss sich die beiden im Web zusammensuchen. Ihr Projekt auch. Art’n’more. Den Trailer zur Ausstellung in Köln auf Vimeo. Und eigene Seiten haben sie auch. Der Grafiker Paul Bowler & der Maler Georg Weißbach.

In der Kölner Ausstellung treten sie aus ihren Büchern heraus und inszenieren sich selbst. Bilden sich auf den Wandtapeten ab, schaffen sich einen Rahmen aus Sprüchen und Plakaten. Fick dich Paul Klee. CUTE GUYS WITH AMAZING PERFECT DICKS, THAT’S ART NOT PORN. Irgendwo tickt eine Uhr. Es gibt einiges zu entdecken. In den Büchern, an der Wand, auf dem Bildschirm, der dort steht. Es macht Spaß, es ist leicht, es ist in der Buntheit laut. Und es ist JETZT. Kein Retro, kein 68, kein Sonstwas. Leben in dieser Welt im Jahr 2013. So waren sie damals. Das hat es gegeben.

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Tja, und nett sind die beiden. Sehr sympathisch. Keine Allüren, keine Berührungsängste. Diese Unterführung in Köln ist momentan besser und lebendiger als jedes Museum of modern Art. Du gehst rein, du sprichst mit den Leuten, du gehst in die Kunst. Keine Rumschnauzerei des Museum-Ludwig-Wachpersonals: Aufstehen. Sie dürfen sich hier nicht hinsetzen!

Ja, ein wenig Happening. Kunst, die lebt. Wunderbar authentisch und anfassbar. Ihr solltet euch Art’n’more von Paul Bowler & Georg Weißbach ansehen – bis zum 5. Oktober bei BRUCH & DALLAS am Ebertplatz. Lohnt sich. Die haben Potenzial. Grüßt mir Tom, genießt afrikanisches Essen, atmet Kunst und vergesst das Labor nicht. Klar. Und nehmt euch ein wenig Zeit mit. Ein Freitagabend, ein Samstagabend dürfte gut sein.

Wer ist Moby Dick, Michael Nowottny?

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CALL ME ISHMAEL.

Dem Thema war ich das erste Mal im letzten Jahr in Liblar in einem fast abgerissenen Supermarkt begegnet. Ich war der Arbeit von Trash Treasure auf der Spur. Hatte gehört, gelesen, dass sie bei der Abrissekstase dabei ist. Ein Projekt, das Kunst Raum gab, etwas zu schaffen, das dann zerstört wird. Von Baggerschaufeln ins Nirvana geschoben.

Einen Hauptgang zierte ein riesiger Wal – bestimmt 10 Meter lang. Darüber die Frage: Wer ist Moby Dick? Einige Zeit später sollte ich während einer Ausstellungseröffnung im Labor unterm Ebertplatz den Maler kennenlernen, der die Frage in den Raum gestellt hat. Michael Nowottny. Geboren 1961.

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Norbert van Ackeren hatte mir gerade seine Arbeiten gezeigt, als ich im zweiten Raum des Ateliers auf die Welt Ahabs stieß. AHAB IST NICHT BÖSE. Ich fand zunächst keinen Zugang. Wale? Ahab? Der Mann und das Meer? Archaischer Kampf? Ich wusste nicht…

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Das Plakative gefiel mir, die Botschaft. Ich hatte nur eine vage Vorstellung, eine Ahnung. Vielleicht, wahrscheinlich, weil ich Melvilles Moby Dick nicht gelesen habe. Oder weil das Plakative den Blick in die Tiefe nahm oder…

Es verging eine Zeit. Zwischendurch waren mir mal die Fotos, die ich in Liblar und im Labor geschossen hatte, in die Finger gefallen. Außerdem hatte mich etwas berührt, von dem niemand wissen kann. Michael Nowottny hat 2011 auf Föhr gemalt – ein Stipendium. Föhr war die letzte Zuflucht meines Freundes Gunnar. Ich habe mit ihm studiert, bin mit ihm und anderen Anfang der Neunziger Goethes Italienische Reise nachgefahren, habe für ihn im Venedig zu seinem 33. Geburtstag eine Flasche Wein aus einem Restaurant geklaut, die wir auf den Stufen von Palladios Sant Giorgio Maggiore mit Blick auf den Markusplatz getrunken haben. Am Ende des Abends mit dem Vaporetto den Canale Grande an den Palazzi entlang zurück zum VW-Bus…

Wir haben zusammen Peter Weiß Ästhetik des Widerstands gelesen, haben die Kunst betrachtet, die darin als Ausdruck menschlichen Widerstands beleuchtet wird. Delacroix, Manet, die Erbauer des Pergamon Altars. Zwei Jahre lang haben wir das Buch gelesen – wir haben anders studiert, ganz anders und am Ende war uns ein Abschluss ziemlich scheißegal.

Gunnar ist auf Föhr gelandet. Der Rekonvaleszenz wegen. Ein wenig Zauberberg. Der Luft wegen. Erst hatte er eine Rippe verloren, dann einen halben Lungenflügel und am Ende hat es ihm ganz die Luft genommen. Zwei Mal hat er es geschafft, hat den Kampf gewonnen. Beim dritten Mal war es nicht zu operieren – der zentrale Eingang in die Lunge. Keine Operation, keine Bestrahlung mehr möglich. Zu brüchig, das Gewebe. Er hat mich zu seinem Gesundheitsminister gemacht, dort oben auf der Insel. Wir haben telefoniert. Und irgendwann ist er einfach zusammengesackt. Föhr. Moby Dick. Ahab. Ist nicht böse. Schreibt, malt Michael Nowottny. Gunnar sah im ähnlich, er war zwei Jahre älter, hatte eine ähnlich Frisur, auch diese dunkle Brille. Ich denke hier an Gunnar, erinnere an ihn, weil es nicht viele gibt, die so sind, wie er war. Nachwort für einen Freund. I.M.

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Manchmal gerät Kunst aus den Fugen und brandet über die Rahmen der Bilder hinaus. Dann wird sie privat, persönlich, innerlich und wehrt sich gegen eine allgemein gültige Rezeption. Ahab, Moby Dick. Kampf, Obsession. Den Dämon besiegen, das Messer aus dem Rücken ziehen, den Peiniger peinigen. Türme, Rumsfeld, Abu Ghureib. Vielleicht.

Das starke ICH. Die Geister, die ich rief. Der Zauberlehrling, der Tanz auf dem Vulkan. Kunst als Kampf, als Spannungsfeld. Moby Dick auf der Spur. Besessenheit, das Tier erlegen. In sich?

Vorgestern Abend: Vernissage im Labor. Zwei Künstler. Fotografien von Pinguin Treutinger (ein auch äußerst sehenswertes Projekt, das ich hier gerne vorgestellt hätte, aber er hat mich gebeten, keine Fotos im Internet zu veröffentlichen. Klar.) und Malerei, Zeichnung und Video (mit Sandra Klaas) von Michael Nowottny: Ahabs letzter Tag. Der letzte Tag, ja. Es gibt einen ersten Tag, einen siebten Tag und einen letzten.

Faszinierend. Seit über einem Jahrzehnt beschäftigt sich Michael Nowottny mit dem Thema. Stellt immer wieder die Frage. Die Frage, die eine Metapher ist. Wer ist Moby Dick? Ich habe die Bilder in verschiedenen Stufen und Größen gesehen. Fragmentarisch, angedeutet in Kohle, halb fertig im Atelier und nun zuletzt gerahmt.

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Es sind starke Arbeiten, die in ihrer Plakativität Ruhe ausstrahlen. Die einen Prozess, eine Geschichte dokumentieren. Ein vielschichtiges Gesamtwerk. Ist Michael Nowottny Ahab? Der Besessene? Ist Moby Dick die Kunst? Der Moment des Durchbruchs, des Erschaffens? Letztlich ist das egal. Nowottny erscheint in den Bildern, wird Teil des Ganzen, taucht als Erschaffer im Video, das in der Ausstellung gezeigt wird, auf.

Die Kunst, ein Jagen. Moby Dick auf der Spur. Flaute, Sturm, Gegenwind, Meuterei, Skorbut, Holzwürmer, faulendes Wasser, Piraten, Hafengesetze, Syphillis, Suff… Es ist eine harte Welt mit quälenden Tagen und Nächten auf dem weiten Meer der Freiheit. Jeder Kurs ist möglich – mit und gegen den Wind. Die Freiheit, in jedem Augenblick zu entscheiden, die Jagd abzubrechen und den weißen Wal ziehen zu lassen…

Der Wal ist tot, es lebe der Wal. Dort liegt er in der Ausstellung im Guckkasten, im Theater aus Holz. Die Kulissen zeigen den Ebertplatz mit Kirche im Zentrum. Straße, Häuserzeilen. Im Keller der Realität, der lebendigen Gegenwart, man sieht es nicht sofort, die Unterführung. Das Labor. Davor der erlegte Wal. Wie oft muss Moby Dick sterben, bis es geschafft ist?

Wer ist Moby Dick? Mein Moby Dick?

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Die Zeichnung des Gerd Mies im Labor Ebertplatz

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Ich hatte Glück. Viveka konnte mich wieder besuchen. Wir durften wieder ein gemeinsames Wochenende miteinander verbringen. Wenn die Dinge nicht selbstverständlich sind, werden sie intensiver und besonders. So einfach ist das. Die Gewohnheit hat Schwierigkeiten, ihren Fuß in die Tür zu schieben.

Freitagabend sind wir nach Köln gefahren. Finissage der Ausstellung Feriengäste im Labor Ebertplatz. Das, worüber ich jetzt schreibe, wird ab Morgen nicht mehr zu sehen sein. Eine Zeichnung von Gerd Mies. Ich glaube, sie hat keinen Namen.

Es war viel los und ich hatte nach einer prallen Woche den Kopf voll und wollte eher. Ihr wisst schon. Den Augenblick genießen. Schauen. Michael Nowottny war da, der ab Freitag ausstellt. Norbert van Ackeren leider nicht.

Das Labor wurde umdekoriert. Jetzt ist es eine Galerie. Wurde vorher nur im Schaufenster ausgestellt, ist nun das ehemalige Ladenlokal der Ort des Geschehens. Feriengäste war eine Gruppenausstellung. Malerei, Zeichnungen, Fotografie. Die Infos, Namen, Fotos findet ihr unter dem Link. Ich habe nicht viel fotografiert.

Wir haben die Ausstellung betreten. Viveka sah sich um und ging schnurstracks zur Zeichnung von Gerd Mies. Ich habe ihr dann über die Schulter gesehen. Ja. Ein von weitem vielleicht eher unscheinbares Bild. Eine Straßenszene. New York. Der Blick geht die Straße entlang bis ins unruhige Weiß im sammelnden Mittelpunkt, im Zentrum der Perspektive.

Millimeterpapier. Quer. Gerd Mies ist Techniker, wenn ich das recht sehe. Arbeitet an der Uni. An der Fakultät für Informations-, Medien- und Elektrotechnik, verrät Google. Das ist mir sehr sympathisch. Der andere Blick. Der Weg abseits.

Das Bild zieht. Hinein. Es hat Sog. Der Perspektiven wegen. Vielleicht. Des freien Raums wegen. Gerd Mies lässt Menschen, Tiere, Autos weg. Eine Straße in New York. Gerd Mies war dort, hat diese Straße aber nicht dort in sich aufgenommen. Google. Street View. Später. Vielleicht einfach den Impuls mitgenommen.

Ich schreibe aus der Erinnerung. Die Fotos liegen noch auf der Speicherkarte. Ich habe mir das Bild mehrfach angesehen. Oben links fehlt eine Ecke, der Rand vorne ist ausgefranst. Sind es die Farben? Irgendwann wusste ich, was es für mich ausmacht. Es ist wie der Anfang oder das Ende einer Geschichte. Es nimmt sich zurück. Eine Bühne, die der Geist bespielen kann. Protagonisten auftauchen lassen. Liebesgeschichten, profaner Alltag, Hollywood, Action, Krieg, spielende Kinder, eine Parade… Ein episches Bild.

Ich habe es für micht gefüllt. Habe ausprobiert, es das Ende einer Geschichte sein zu lassen, oder der Anfang. Ein gutes kleines Bild. Unaufdringlich, bescheiden. Und gerade deshalb von Wert.

Viveka hätte es gerne gehabt. 520,00 €. Schade, dass ich nicht reich bin und in Kategorien wie die Anschaffung eines neuen Gebrauchtwagens denke. Für die Freude, die die Kunst bereitet, wird sie recht unfürstlich entlohnt. Am Ende des Tages sind es dann doch die armen Schlucker, die kommen. Kunst gucken, ein Bier trinken, zwei, eine Wurst essen. Gebraten von dem Mann mit den schwarz glänzenden kurzen Hosen von der Firma mit den drei Streifen (in gelb), Flip-Flops und Jeanshemd.

Leider hat Gerd Mies keine Internetseite. Aber, ihr könnt ihn auf facebook besuchen. Tja, und das Bild, das seht ihr hier. Natürlich verliert es. Farben, Haptik, Optik. Der Bildschirm macht profan, raubt, schmälert. Das Internet ist nicht wirklich ein Kunstmedium. Befreundet euch am besten per facebook mit dem Labor Ebertplatz, dann bekommt ihr mit, was da so läuft. Und: Mittlerweile haben im Niemandsland der Ebertplatzunterführung noch zwei Kunstprojekte ihre Pforten eröffnet. Gute Stimmung dort. Schön subversiv. Kein Schickimicki. Genau richtig.

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