CALL ME ISHMAEL.
Dem Thema war ich das erste Mal im letzten Jahr in Liblar in einem fast abgerissenen Supermarkt begegnet. Ich war der Arbeit von Trash Treasure auf der Spur. Hatte gehört, gelesen, dass sie bei der Abrissekstase dabei ist. Ein Projekt, das Kunst Raum gab, etwas zu schaffen, das dann zerstört wird. Von Baggerschaufeln ins Nirvana geschoben.
Einen Hauptgang zierte ein riesiger Wal – bestimmt 10 Meter lang. Darüber die Frage: Wer ist Moby Dick? Einige Zeit später sollte ich während einer Ausstellungseröffnung im Labor unterm Ebertplatz den Maler kennenlernen, der die Frage in den Raum gestellt hat. Michael Nowottny. Geboren 1961.
Norbert van Ackeren hatte mir gerade seine Arbeiten gezeigt, als ich im zweiten Raum des Ateliers auf die Welt Ahabs stieß. AHAB IST NICHT BÖSE. Ich fand zunächst keinen Zugang. Wale? Ahab? Der Mann und das Meer? Archaischer Kampf? Ich wusste nicht…
Das Plakative gefiel mir, die Botschaft. Ich hatte nur eine vage Vorstellung, eine Ahnung. Vielleicht, wahrscheinlich, weil ich Melvilles Moby Dick nicht gelesen habe. Oder weil das Plakative den Blick in die Tiefe nahm oder…
Es verging eine Zeit. Zwischendurch waren mir mal die Fotos, die ich in Liblar und im Labor geschossen hatte, in die Finger gefallen. Außerdem hatte mich etwas berührt, von dem niemand wissen kann. Michael Nowottny hat 2011 auf Föhr gemalt – ein Stipendium. Föhr war die letzte Zuflucht meines Freundes Gunnar. Ich habe mit ihm studiert, bin mit ihm und anderen Anfang der Neunziger Goethes Italienische Reise nachgefahren, habe für ihn im Venedig zu seinem 33. Geburtstag eine Flasche Wein aus einem Restaurant geklaut, die wir auf den Stufen von Palladios Sant Giorgio Maggiore mit Blick auf den Markusplatz getrunken haben. Am Ende des Abends mit dem Vaporetto den Canale Grande an den Palazzi entlang zurück zum VW-Bus…
Wir haben zusammen Peter Weiß Ästhetik des Widerstands gelesen, haben die Kunst betrachtet, die darin als Ausdruck menschlichen Widerstands beleuchtet wird. Delacroix, Manet, die Erbauer des Pergamon Altars. Zwei Jahre lang haben wir das Buch gelesen – wir haben anders studiert, ganz anders und am Ende war uns ein Abschluss ziemlich scheißegal.
Gunnar ist auf Föhr gelandet. Der Rekonvaleszenz wegen. Ein wenig Zauberberg. Der Luft wegen. Erst hatte er eine Rippe verloren, dann einen halben Lungenflügel und am Ende hat es ihm ganz die Luft genommen. Zwei Mal hat er es geschafft, hat den Kampf gewonnen. Beim dritten Mal war es nicht zu operieren – der zentrale Eingang in die Lunge. Keine Operation, keine Bestrahlung mehr möglich. Zu brüchig, das Gewebe. Er hat mich zu seinem Gesundheitsminister gemacht, dort oben auf der Insel. Wir haben telefoniert. Und irgendwann ist er einfach zusammengesackt. Föhr. Moby Dick. Ahab. Ist nicht böse. Schreibt, malt Michael Nowottny. Gunnar sah im ähnlich, er war zwei Jahre älter, hatte eine ähnlich Frisur, auch diese dunkle Brille. Ich denke hier an Gunnar, erinnere an ihn, weil es nicht viele gibt, die so sind, wie er war. Nachwort für einen Freund. I.M.
Manchmal gerät Kunst aus den Fugen und brandet über die Rahmen der Bilder hinaus. Dann wird sie privat, persönlich, innerlich und wehrt sich gegen eine allgemein gültige Rezeption. Ahab, Moby Dick. Kampf, Obsession. Den Dämon besiegen, das Messer aus dem Rücken ziehen, den Peiniger peinigen. Türme, Rumsfeld, Abu Ghureib. Vielleicht.
Das starke ICH. Die Geister, die ich rief. Der Zauberlehrling, der Tanz auf dem Vulkan. Kunst als Kampf, als Spannungsfeld. Moby Dick auf der Spur. Besessenheit, das Tier erlegen. In sich?
Vorgestern Abend: Vernissage im Labor. Zwei Künstler. Fotografien von Pinguin Treutinger (ein auch äußerst sehenswertes Projekt, das ich hier gerne vorgestellt hätte, aber er hat mich gebeten, keine Fotos im Internet zu veröffentlichen. Klar.) und Malerei, Zeichnung und Video (mit Sandra Klaas) von Michael Nowottny: Ahabs letzter Tag. Der letzte Tag, ja. Es gibt einen ersten Tag, einen siebten Tag und einen letzten.
Faszinierend. Seit über einem Jahrzehnt beschäftigt sich Michael Nowottny mit dem Thema. Stellt immer wieder die Frage. Die Frage, die eine Metapher ist. Wer ist Moby Dick? Ich habe die Bilder in verschiedenen Stufen und Größen gesehen. Fragmentarisch, angedeutet in Kohle, halb fertig im Atelier und nun zuletzt gerahmt.
Es sind starke Arbeiten, die in ihrer Plakativität Ruhe ausstrahlen. Die einen Prozess, eine Geschichte dokumentieren. Ein vielschichtiges Gesamtwerk. Ist Michael Nowottny Ahab? Der Besessene? Ist Moby Dick die Kunst? Der Moment des Durchbruchs, des Erschaffens? Letztlich ist das egal. Nowottny erscheint in den Bildern, wird Teil des Ganzen, taucht als Erschaffer im Video, das in der Ausstellung gezeigt wird, auf.
Die Kunst, ein Jagen. Moby Dick auf der Spur. Flaute, Sturm, Gegenwind, Meuterei, Skorbut, Holzwürmer, faulendes Wasser, Piraten, Hafengesetze, Syphillis, Suff… Es ist eine harte Welt mit quälenden Tagen und Nächten auf dem weiten Meer der Freiheit. Jeder Kurs ist möglich – mit und gegen den Wind. Die Freiheit, in jedem Augenblick zu entscheiden, die Jagd abzubrechen und den weißen Wal ziehen zu lassen…
Der Wal ist tot, es lebe der Wal. Dort liegt er in der Ausstellung im Guckkasten, im Theater aus Holz. Die Kulissen zeigen den Ebertplatz mit Kirche im Zentrum. Straße, Häuserzeilen. Im Keller der Realität, der lebendigen Gegenwart, man sieht es nicht sofort, die Unterführung. Das Labor. Davor der erlegte Wal. Wie oft muss Moby Dick sterben, bis es geschafft ist?
Wer ist Moby Dick? Mein Moby Dick?