20. Juni 1976

10 Jahre bloggen. Alles erzählt, alles Innere nach außen gekehrt. Über Grenzen gegangen, das es weht tat. Den Menschen, die gelesen haben.

Gerade ist viel los, ich arbeite viel und auch ansonsten beanspruchen mich Menschen, die meine Talente gebrauchen können. Wenn jemand Autos reparieren kann, wird er gefragt, wenn ein Auto kaputt geht. Ganz normal. Sag mal, mein Fiesta macht so komische Geräusche, könntest du mal…

Ich weiß nicht, ich habe zu viele Talente. Irgendeines kann immer irgendwer brauchen. Den Arbeitslosenantrag ausfüllen. Den Webtext schreiben. Mal drauf schauen, wie es im Leben weitergehen könnte.

Ein gefragter Mann bin ich, wer hätte das gedacht.

Es hat mit meinem Kopf zu tun und mit meinen Händen. Beide verstehen sich gut und ich helfe gerne.

Heute war ich müde. Eigentlich hätte ich raus gemusst, raus gewollt. Sonne im Februar, warm draußen, aber ich war müde nach einer intensiven Woche und einem Samstag im Dienste der Familie. Ich kann Küchen aufbauen, Herde anschließen, Stichsägen durch Küchenplatten führen. Gerne. Es war schön. Es hat mir gefallen, da zu sein. Wenn man hilft, ist man nah dran, gerne gesehen und für einen selbst ist es ein schönes Gefühl.

Nur war ich heute erschöpft und habe mich ins Bett gelegt, um Filme zu sehen. Seichtes, Sanftes. Ich bin in den Achtzigern gelandet und plötzlich in einem Gefühl der Vergangenheit. Den Ausschlag hat ein Song von den Simple Minds gegeben. Don’t forget.

Da war ich wieder im damals und in diesem alten Gefühl. 1985.

Würde ich die ganze Geschichte erzählen, all die Gefühle, all den Wahnsinn. Ich weiß auch nicht, ob ich an all die Dinge tiefer denken möchte. Es sind einige Leute gestorben. Bei Unfällen, durch Krankheit. Freunde, Schulfreunde. Unter anderem.

Ich kam aus einer Zeit, die wie ein Schleier über mir gelegen hat. Ich weiß bis heute nicht, weshalb all die Dinge geschehen sind. 1974. Ich war 9 Jahre alt, als sich alles änderte. Von einem auf den anderen Tag ging es aus einem behüteten Leben in ein nicht enden wollendes Chaos. Zu der Zeit war ich in einer dritten Klasse irgendwo im nördlichen Nordrhein-Westfalen. Ich sang im Chor, spielte Fußball und war der kleine blonde Junge, den alle mochten. Wir wohnten neben einer Eisfabrik und ab und an lud uns die Tochter ein, am Swimmingpool zu liegen. Und irgendwann gingen wir mit ihr in die Fabrik, uns Eis zu holen. Egal welches. Die dicksten.

Es war ein Paradies. Mein älterer Bruder erwischte mich mit Uschi unter der Bettdecke. Wir feierten Kindergeburtstage, spielten mit allen Kindern der Straße Verstecken, fuhren mit den Rädern durchs Moorgebiet zum Baggerloch. Ich war ein süßer kleiner Junge, ein Clown, ein Racker, ein Abenteurer. Die Welt mochte mich. Wir tranken manchmal bei unserer Klassenlehrerin Zuhause Tee. Sie hatte Batiktücher an der Wand.

Es hätte alles so bleiben können, aber mein Vater war ein unsteter Geist. Ein neues Jobangebot. Er hielt es in der Firma nicht mehr aus, wir mussten weg. Für ihn nur eine weitere Station auf dem Weg. Ein neuer Schreibtisch, eine neue Aufgabe, ein neuer Abschnitt. Ich verabschiedete mich von meinen Freunden. Ich habe sie nie wieder gesehen. Wir waren nur Kinder, was zählt das schon. “Sagt Auf Wiedersehen.”

Wir landeten in der Fremde. Die Kinder sprachen eine andere Sprache, keine Lehrerin wollte mir mir Tee trinken. Ich wurde angeschrien, einmal geschlagen. Weil mein Vater eine Position in der Fabrik des Dorfes hatte, wollten die Kinder wissen, ob ich was besseres bin. War ich was besseres? Woher sollte ich das wissen? Was hätte ich sagen sollen? “Was hat euer neues Auto gekostet?” Ich hatte auf keine Frage irgendeine Antwort.

Es war sehr einsam geworden um mich. Plötzlich war ich ein Exot, ohne ein Exot sein zu wollen. Aber je mehr sie sagten, dass ich anders bin, desto mehr fühlte ich mich anders. Und ich war es auch. Ich konnte mit ihnen spielen, dabei sein, aber nicht dazu gehören. Ganz ehrlich? Ich wollte es auch nicht. Irgendwann brachte ich einen Hund mit nach Hause, der eine Hündin war. Jimmy. Mit ihr zog ich los und genoss das Alleinsein im Wald. Keine Fragen, kein sich beweisen müssen. Frei.

Das ist bis heute geblieben.

Es kam der 20. Juni 1976 und es schien, dass meine Familie von einem Fluch getroffen wurde. Von einem Schlag. Uli Hoeneß verschoss am Abend den entscheidenden Elfmeter im EM-Finale und damit meinen Vater ein Stück weit aus dem Leben. Am nächsten Morgen und bis zum Ende seines Lebens war er halbseitig gelebt. Jetzt waren wir nichts Besseres mehr. Das Geld wurde knapp, der Papa durchlief eine zweijährige Krankenhaus-Odyssee und bei mir setzte die Erinnerung aus.

Ich saß Nachmittage stumpf vor der Heizung, machte keinerlei Hausaufgaben und wartete darauf, dass irgendwie alles wieder so sein würde. Das tat ich sechs Jahre lang.

1982 floh ich aus meiner bedrückenden Welt in ein Internat, um mich zu befreien. Es war keine Option mehr, zu bleiben. 17 Jahre alt war ich und es gab keinen Weg mehr zurück. Fortan stellte ich mein Leben auf meine eigenen Füße. Ich begann zu schreiben, weil das ein Talent ist und meine Form der Therapie. Wenn es aufgeschrieben ist, ist es fast, als sei es ausgesprochen. Ich habe viele Gespräche auf Papier geschrieben und später in Rechner gehackt.

Es war eine Flucht und ich landete im Paradies. Ich veränderte mich, fand wieder Tritt, kehrte zurück ins Leben, war wieder einer, den alle mochten. Schönlau. Sie feierten mich, sie mochten meinen Wortwitz, meine Verrücktheit, meine Ideen, mein über Grenzen gehen. Ich verliebte mich in sie, sie verliebte sich in mich. Wir schliefen miteinander, detailliert geplant und in tiefer Liebe. Was habe ich sie geliebt. Wie viel Trost sie war und wie lustig, was für ein schönes Lachen sie hatte. Wir konnten voneinander nicht lassen, schrieben Briefe, wenn wir uns einen Tag nicht sahen. Ihr Vater hasste mich, es war mir egal. Die anderen Jungs wollten sie, es war mir egal. Es war ein Traum.

Wir feierten. Ich tanzte wie verrückt. Ich habe nie aufgehört, wie verrückt zu tanzen. Musik ist eine der Fluchtoptionen, in Verbindung mit Tanz ist sie Droge. Es fühlt sich an, als würden die Augen nach hinten wegklappen.

Genug.

Das Gute, diesen Text wird niemand lesen. Ich werde ihn nicht posten, nicht verbreiten. Er wird hier stehen in meinem Tagebuch und mich daran erinnern, wie es war. Eine Andeutung. All die Facetten jener Zeit. Sie hat mich geprägt. Sie hat mich abgehärtet. Manchmal, wenn es hart auf hart kommt, bin ich ganz ruhig und kein wenig verzweifelt. Es kann mir nichts. Nicht mehr so wie damals.

Heute bin ich ein glücklicher Mann in einem normalen Leben. Was mir fehlt ist ein Hund, mit dem ich im Wald Einsamkeit genießen kann.

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