Nach der Wende, als die Mauer in Berlin gefallen war und sich der kalte Krieg in die neuen Konflikte der Welt aufzulösen begann, kam sie aus Prag. Sie wollte die komplette Wende, die Ablösung ihrer Vergangenheit durch einen gleichsam globalen und individuellen Wandel. In Prag gehörte sie der deutschen Minderheit an. Ihr Leben lang hatte sie sich dort als Fremde gefühlt, als eine Deutsche unter Tschechen, obwohl sie beide Sprachen akzentfrei sprach. Ihr Vater sagte „Eines Tages werden wir frei sein, werden dieses Land verlassen und nach Deutschland gehen.“ Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater sie noch intensiver deutsch erzogen, hatte sie nach der Schule, nach dem Unterricht in tschechischer Sprache, unterrichtet. Hatte mit ihr die Klassiker gelesen. Er erklärte ihr den Aufbau der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, das föderalistische Prinzip, die Aufteilung in Bund und Land, in Bundestag und Bundesrat. Sie kannte das Grundgesetz, das Wahlrecht. Die geografischen Gegebenheiten, die Mittelgebirge und Ebenen, die Flüsse und Seen, die großen Städte und die Geschichte. Er wollte sie vorbereiten auf einen Tag, an dem sie Tschechien verlassen konnten. Dann sollte sie so weit sein, sollte wissen, was auf sie zukommt und wie das Leben dort im Westen Deutschlands funktioniert. Ihre Mutter war früh an Krebs gestorben, da war sie, Emmi, zehn Jahre alt. Ihr Vater gab dem Sozialismus die Schuld am Tod seiner Frau, er zerbrach, verweigerte sich innerlich, kappte die Verbindung zur Welt und konzentrierte sich darauf, seiner Tochter eine Bildung jenseits des sozialistischen Systems geben zu können.
Als die Wende kam, war ihr Vater bereits ein Jahr tot. Er hatte sie herannahen sehen, hatte bis zu letzt gehofft und musste doch vorher kapitulieren. Das Herz setzte aus, Bypässe und ein Schrittmacher wurden gesetzt, es half nicht. Sie hatte trotz Doppelbelastung ihr Abitur geschafft und wollte studieren, als die Grenzen geöffnet wurden. Sie war allein, hatte wenige Freunde. War ungebunden. Sie jobbte in Kneipen als Kellnerin, schlief ab und an mit Männern, deren Lächeln ihr gefiel. Sie wollte Spaß, wollte Lachen, eine Sehnsucht befriedigen. Es gelang ihr nicht. Obwohl es in Prag brodelte, die Veränderung überall Einzug hielt, plötzlich so vieles möglich war, sie wollte weg. Die Stadt war ihr zu grau, zu grimmig, zu sehr vom Alten besetzt.
Sie wollte nur für ein Wochenende fahren. Nach Berlin. In die kommende Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands. Es war ihr nicht klar, ob sie wegen ihres Vaters fuhr oder aus ihrem eigenen Verlangen nach Veränderung heraus. Sie wusste es nicht und es war ihr auch egal. Ihre Eltern waren tot, der Sozialismus begraben, ihre Vergangenheit war wie ausgelöscht. Für sie gab es nur noch Gegenwart und Zukunft. Sie stand am Anfang eines neuen Lebens. Sie wollte Tschechien nicht aufbauen, kein Teil eines Neuanfangs werden. Es war ihr egal. Sie wollte leben.
Berlin erreichte sie per Bahn. Sie hatte ihren Koffer gepackt und war losgefahren. Wahrscheinlich würde sie nicht zurückkommen. Sie hatte ein gutes Gefühl, ein wildes Gefühl. Als sie in Berlin eintraf, lächelte sie. Sie konnte bei einer Tschechin, die sie flüchtig kannte, am Prenzlauer Berg unterkommen. Wohnraum gab es genug. Sie hatte ein großzügiges Zimmer für sich allein in einer Altbauwohnung. Sie landete inmitten einer neuen Kultur der Projekte. Jedes Ladenlokal wurde zu einem Atelier, einer Galerie, zur Schaltzentrale eines Aktionsbündnisses. Hinterhöfe wurden besetzt, Werkstätten, Hallen umfunktioniert. Szenekneipen schossen wie Pilze aus dem Boden. Discotheken in Kellern, Bars, Clubs. Mit Lizenz, ohne Lizenz, egal. Keinen kümmerte es. Es war ein riesiger Tummelplatz entstanden, ein von den Behörden im Wendengewimmel nicht zu beherrschendes Chaos. Freiraum, Möglichkeiten, Inspiration, Leidenschaft, Enthusiasmus allerorten. Und Emmi mittendrin. Sie hatte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität Germanistik studieren wollen. Das war ihr grober Plan, den sie sich in weiteren Facetten nicht ausgemalt hatte. Aber dazu kam es nicht, dazu ließ ihr die Stadt keine Zeit. Sie hielt sie im Osten, am Prenzlauer Berg, lockte sie, rief. Sie blieb.
Hallo Jens,
ich bin begeistert – und immer mehr durcheinander. Ich glaube, ich muß wirklich noch mal neu lesen. Projekt Elaine fluscht nicht einfach so, es hat Widerhaken und Kanten. Habe ich irgendetwas verpaßt? Nein, Dich frage ich nicht. Du hast die ganze Geschichte im Kopf oder auf der Festplatte. Du bist der Regisseur und hast die Fäden in der Hand. Wir, Deine Leser – ich zumindest – stehen im Dunkeln, im Nebel des Unwissens. Aber glaube nicht, daß wir da nicht wieder herauskommen.
Ich wünsche euch einen wundervollen Tag. Danke für die Fortsetzung (Oder den Schluss? Wer weiß …)
Viele Grüße
Annegret
Hi Annegret, liebe Elaine-Leser/innen,
ich möchte euch bitten, Geduld zu haben. Es wird sich in der Geschichte alles ergeben. Es macht Sinn. Für euch jetzt noch nicht und wir kriechen über den Weg. Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit. Ich brauche Zeit und Raum, die Story aufzubauen. Figuren einzuführen, die Basis zu schaffen. Vielleicht denkt ihr jetzt noch, das alles hat weder Hand noch Fuß. Wartet ab. Eines kann ich jetzt schon verraten, bis es zu einem Schluss kommt, werde ich noch viel schreiben müssen. Ich hoffe, das schaffe ich.
Danke Annegret, euch allen einen schönen Tag
Jens
Hallo Jens, hallo alle,
mir gefällt die Verschachtelung der verschiedenen Zeitebenen. Ich hab da so eine Vermutung, wer Emmi sein könnte – verrat‘ ich aber nicht… Mal sehen, ob ich richtig liege. Bin neugierig auf die FortsetzungEN!
Viele Grüße
filomena
Hi filomena,
das ist gut, dass dir die Verschachtelung gefällt. Momentan tauchen ja durchaus mehr Fragen auf, als Antworten gegeben werden. Es wird…
Liebe Grüße
Jens