Dresden sehen und sterben

dance
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Die Überschrift stammt nicht von mir, sondern von Viveka.

Die Stadt hat uns ziemlich umgarnt und gefangen genommen. TANZT! stand da in der Neustadt an der Wand (Scheune Dresden). Und in einer Seitengasse unweit der Frauenkirche in Beton gegossen: “ICH WILL NICHT HÜBSCH UND LIEBLICH TANZEN!” (Palucca).

palucca
palucca

Die Menschen in Dresden tanzen das Leben. Noch. Vielleicht. Kürzlich habe ich über die Kranhäuser in Köln geschrieben. Investorenprojekte. Rendite. Quadratmeter aus Gold. Zum Erliegen gebrachtes Leben, das über den Köpfen der anderen stattfindet. Wie war das? “EURE ARMUT KOTZT MICH AN”?

Noch ist das Wohnen in Dresden relativ preiswert, obwohl die Mieten in den letzten Jahren von niedrigem Niveau um 60-70% gestiegen sind. Meinte ein junger Mann, den wir auf der Straße getroffen haben. Monopoly. Irgendwann ist ein Wert erreicht, bei dem es sich lohnt, als Investor einzusteigen. Dann fallen die Altbauten, die Szene- und Künstlerviertel den Banken und Architekten und Planern in die Hände, die das ja gelernt haben. Wie man baut, wie man gestaltet. Dann ist Schluss mit Wildwuchs – und lustig. Hoffentlich nicht. Dresden möge so bleiben. So ruhig, so menschlich, so freundlich, so lebens- und liebenswert. Mit so viel Platz für Kunst und Improvision und für Projekte wie die OSTRALE. Das sind die blühenden Landschaften, das ist der Aufbau Ost (Sage ich jetzt mal naiv romantisch, ohne die Lebenswirklichkeit der Menschen tatsächlich zu kennen.)

Als wir aus dem Hotel kamen, trafen wir ihn. Einen jungen Mann mit Fahrrad und Anhänger. Viveka fragte ihn: “Guter Mann, wohin des Weges?” Und er antwortete mit dem Klang der Stimme eines Mannes, der eine Mission hat: “Zum Schrottplatz.” Wir haben ihn dann in der Neustadt öfter gesehen und tief in der Nacht, als er mit Anhänger an uns vorbeigeflogen ist, mussten wir lachen. Lange. Sehr sympathisch. Ich hatte versucht, ihn zu fotografieren. Kriegte die Kamera aber nicht aus der Tasche, drückte dann doch kurz vor dem Verschwinden am Straßenhorizont den Auslöser und hatte nix drauf. Irgendwo im Straßenlaternenlicht ein verschwommenes Etwas. Zu schnell, der Mann. Mission.

journey
journey

Wir waren auf dem Weg, Helga, Martina und David in der Alaunstraße zu treffen. Da wären wir fast schon bei einem ersten Kunstprojekt hängen geblieben. Zwei Männer lagen in einem Bett auf dem Gehweg. Mit Kissen, Bettdecke und allem drum und dran. Kemal lag dort, erlaubte mir, ihn zu fotografieren und lud uns ein, Sebastian kennenzulernen, der das Projekt initiiert hat. Später, haben wir gesagt. Am nächsten Tag war es verschwunden. Wie im Märchen. Weggezaubert.

in bed
in bed

Nach dem gemeinsamen Kaffee haben wir uns, Viveka und ich, zu Fuß auf den Weg zur Ostrale gemacht – obwohl wir Straßenbahntickets für den ganzen Tag hatten. Die Alaunstraße runter. Große Augen. Szeneviertel. Die Scheune Dresden mit dem Schaubudensommer. Artisten, Kleinkunst. Hereinspaziert. Dort trafen wir den Betreiber des wohl kleinsten Kinos der Welt. Ein liebevoll gestalteter Wohnwagen. Sitze mit rotem Samt. Gezeigt werden die in 20 Jahren gesammelten Lieblingskurzfilme des Betreibers, der gerade seinen Popcornautomaten FANTASTOMAT für den Abend mit Überraschungen bestückte. Wie so ein Mensch Herzen erweicht. Wie er eine Welt schafft, die Glück bringt. Da ist Platz für Herzenswärme. Menschenverstand im positiven Sinne. Stadtplaner – für solche Kinos braucht es Raum, Platz und Erkennen! Wert und Wichtigkeit.

short cinema
short cinema

Zeitsprung. Die OSTRALE-Eröffnung liegt hinter uns. Der nächste Tag.

Wieder zu Fuß. Wieder durch die Neustadt Richtung Altstadt. Touriprogramm. Frauenkirche. Semperoper. Marcel, den wir auf der Hinfahrt per Mitfahrgelegenheit mitgenommen haben, hatte uns erzählt, dass viele Menschen glauben, die Semperoper sei die Radeberger-Brauerei. Werbung. Ts.

Wir wollten uns von links nähern. Über die Albertbrücke, nicht über die Augustbrücke. Und was hat uns am Elbeufer erwartet? Ein Flohmarkt. Das hatte sich Viveka gewünscht. Sie hat mich über die Brücke gezehrt. Schnellen Schrittes. Schneller! “Jens, nur eine Stunde!” Klar. Keine Frage. Es waren dann zwei und wir haben alles gesehen. Jeden Stand. Viveka hat Weihnachtskugeln gekauft. Sehr alte, sehr schöne und ein Kleid. Mir fiel UNENDLICHER SPASS von David Foster Wallace in die Hände. Dieses Buch der Bücher. Diese Bibel der sprachlichen Möglichkeit. Ein Euro. Ich konnte den Verkäufer nicht enttäuschen und bin den ganzen Tag mit dem SCHINKEN durch Dresden gelaufen. Und: Es war gut, das Buch dabei zu haben. An diesem Tag habe ich mehrere Lesungen gegeben. Jeweils eine Seite. Viveka hat eine Seitenzahl genannt, ich habe gelesen. Dieses Buch ist mindestens eine Offenbarung.

Das hat der Junggesellenabschied, der uns später angequatscht hat, auch gedacht. Denn. Ja. Die vielen jungen Männer in weißen Kitteln, die ihrem Junggesellen einen OP-Kittel und eine Windel verpasst hatten, durften auch eine Seite UNENDLICHER SPASS hören. Mitten in der Fußgängerzone auf einer Treppe. Das war meine Bedingung für den Kauf eines Andenkens aus ihrer Kleinigkeiten-Kiste. Passte gut. Der Titel zum Projekt EHE, die Wallace-Zeitrechnung mit dem Referenzpunkt JAHR DER INKONTINENZ-UNTERWÄSCHE zum Junggsellen mit Windel sowie der Textinhalt, den ich leider nicht wiedergefunden habe. (Warme Worte auf dem Weg in das Abenteuer Beziehung.) Über 1.400 Seiten, da geht schon mal was verloren. Weg. Schade. Aber der Schlusssatz hat auch gepasst. Dresden steckt an. Eine Mitmach-Stadt. Die Aktion war ziemlich lustig.

frauenkirche
frauenkirche

Genauso wie das Treffen mit Klaus am Abend in der Neustadt. Wir hatten uns nach dem Altstadtbesuch und Stunden auf der Wiese im Alaunpark ins Nachtleben gestürzt. Alle saßen draußen auf der Straße, tranken mitgebrachtes Flaschenbier, unser Anhängermann kreiste durchs Viertel, eine Bluesband sang an einer Straßenecke, der Schaubudensommer lief mit vollem Programm, ein junges Paar eröffnete vor unserer Nase einen Bowle-Verkauf, es war warm, schön, unbeschreiblich.

night
night

Da lief uns Klaus über den Weg. Geboren 1949. Baseballkappe mit geradem Schirm, Hornsonnenbrille Marke Honecker. “Dieser Dreck hier. Diese verdammten Amis. Schaut mal dahinten. Pissen alles voll. Wo kommt ihr her?” Ich konnte nicht anders. Ich richtete meinen Kiefer aus, nahm einen amerikanischen Slang in den Mund und faselte was von “John from New York Citiieeee.” Oh Wunder. Klaus sprach Englisch und es wurde ein begeistertes viertelstündiges Gespräch, in dem wir uns über unsere Länder und unsere Vergangenheit ausgetauscht haben. Plötzlich hatte Klaus Freunde in Amiland und überhaupt. Um ihm die Tragweite von Radikalität vor Augen zu führen, habe ich mich als begeisterter Anhänger von George W. Bush ausgegeben, was ihn doch kritisch hat anmerken lassen, dass das wohl nicht alles so toll war… Geht doch. Man muss den Menschen nur die Möglichkeit geben, das Gute auszuleben. Wir waren dann ein Herz und eine Seele und ich musste weg, weil Viveka sich kaum noch halten konnte und ich auf keinen Fall Klaus das Gefühl geben wollte, ihn verarscht zu haben. Er hat mich am Arm gehalten, um mir seinen letzten Satz auf meinen Rückweg nach Amerika mitzugeben: “Germany is a clean country.” Ja Klaus, da hätte ich auch noch ein paar Takte zu sagen können, aber wir sind ja Bruder- und Schwestervölker, oder? Auf jeden Fall haben wir ihn ein wenig glücklicher gemacht und mit einem besseren Gefühl gegenüber den überall hin pinkelnden Amis zurückgelassen. Denke ich.

Ansonsten? So viel. Dieses Stadt ist so prall, voll. Lebendig. Unten nur eine Auswahl der über 600 Fotos vom Wochenende. Klickwahn. Sonntag waren wir noch einmal auf der OSTRALE, haben uns alles angesehen. Ich hoffe, ich schaffe es noch, auch darüber zu berichten. Diese Woche ist Dresdenwoche im fiftyfiftyblog. Viel Spaß, haut rein. Tschüssikowski.

fotokiste
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swissotel
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semper/bath
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schauburg
schauburg

Demokratie in Tränen

Gundgesetz

Ja, ich sitze fett in meinem Bett, meinem Leben und schaue zu.

Es gab Zeiten. Damals und noch früher. Die Wiege der Demokratie, als entstand, was gerade bedenkenlos ausgehöhlt wird: Die Herrschaft des Volkes. Demos. Griechisch. Ist auch nicht mehr das, was es mal war. Deshalb?

Gehen wir weiter im Text, in der Geschichte. Der Sturm auf die Bastille, das Hinwegfeuern des Feudalen. Das Enthaupten der königlichen Prunkdiktatur per Guillotine. Das Überschwappen des Freiheitsgedankens, die Rückkehr der Demokratie nach Europa. Jahrhundertelang vergessen, verschollen, von Unwissenheit der finsteren Zeit überdeckt. Das brennende Kreuz der Ritter über allem, der Kampf gegen die Ungläubigen. So. Renaissance, Entdeckung der Wissenschaft, Re-Etablierung der Philosophie, der Menschlichkeit.

Es hat gedauert, bis Deutschland erwachte. 1848. Büchner. Friede den Hütten, Krieg den Palästen. Es war eine Zeit, als das Volk die Schnauze voll hatte. Gestrichen. Die Zeit der Restauration, die Wiederkehr des Feudalen. Man muss sich einmal vorstellen, wie es ist, wenn man das Licht der Freiheit kurz gesehen hat, um dann in die Sklaverei zurückzukehren. Das haben nicht alle mitgemacht. Nicht in Europa, nicht in Deutschland. Es sind Menschen aufgestanden für ihre Rechte als Mensch und sie sind dafür gestorben. Manchmal. Zur Zeit sollten wir uns daran erinnern.

Denn: Die Demokratie wird aktuell mit Füßen getreten. Und das Merkwürdige ist, kaum jemand sagt, schreibt, schreit etwas. Kein lauter Aufschrei. In der modernen Sprache unseres monetärzentrierten Systems heißt das: Eingepreist. Wir haben uns daran gewöhnt. Man könnte aber auch sagen: Wir pennen. Sind satt, fett, bereit zentrale Rechte über Bord zu werfen.

Momentan geht etwas vor, was unfassbar ist. Bürgerrechte werden von demokratischen Regierungen einfach entzogen. Snowden hat uns gezeigt, dass Amerika und England mit Methoden der Stasi arbeiten. Dass sie komplett in den privaten Bereich aller Bürgerinnen und Bürger eindringen. Dass sie digitale Geruchsproben nehmen. Kabel anzapfen, die aus unseren Wohnzimmern heraus laufen. George Orwell, Big Brother is watching you. Wir haben das früher als Science Fiction abgetan. Nun ist es da. In diesem Augenblick ist es möglich, dass das, was ich hier schreibe, bereits mitgelesen wird, weil der Text per Datennetz auf den Server meines Providers übertragen wird.
“Das Internet ist für uns Neuland.” Wow. Was für ein Kommentar angesichts dessen, was hier los ist. Angesichts offiziell entzogener Bürgerrechte. Und: Der BND möchte wohl auch gerne und scheint involviert, weshalb unsere Politik eher schweigsam reagiert.

Ich mache mir Gedanken. Schon länger. Das hat damals bei Stuttgart 21 angefangen, als aus politisch taktischem Kalkül auf Demonstrierende Gewalt in lange nicht dagewesener Weise ausgeübt wurde. Das Demonstrationsrecht ist eines der höchsten Güter einer Demokratie. Wir blicken auf die Türkei. Schauen hin, was dort geschieht. Hochnäsig, verurteilend. Vorher haben wir nach Tunesien und Ägypten geschaut. Wohlwollen. Aber auch herabschauend, weil wir ja Demokratie verinnerlicht und in allen Institutionen manifestiert haben. Zumindest glauben wir das. Oder: Haben das geglaubt.

Die Demokratie bekommt Risse. Es geschieht, dass sie offiziell ausgehöhlt wird. Frankfurt. Blockupy. Mehrere tausend Menschen wollen ihrem Unmut Ausdruck verleihen. Eine Demonstration wird angemeldet, die auch vor der Europäischen Zentralbank stattfinden soll. Es gibt im Vorfeld eine juristische Auseinandersetzung, an deren Ende die Gerichte sagen: Ja, ihr dürft an der EZB vorbeiziehen. Ein demokratischer Prozess. Die, die sich mit den Gesetzen auskennen, die in der Demokratie die Aufgabe haben, die Gesetze praktisch auszulegen, haben entschieden.

Und was ist dann geschehen? Unter einem Vorwand stoppte die Polizei den Demonstrationszug. An einer Stelle, die es den Nachfolgenden unmöglich machte, zur EZB zu gelangen. Der Zug sollte umgeleitet werden, eine ganz andere Strecke gehen. Es war eine Sperre entstanden, weil die Polizei bis in den Abend, bis zur Auflösung der Demonstration, die Spitze des Demonstrationszuges in einen Korken verwandelte, der den Weg versperrt hat. Es seien Feuerwerkskörper geflogen. Es habe die Gefahr bestanden, dass der Schwarze Block Gewalt ausübt. Klar. Und Marinus van der Lubbe hat den Reichstag angezündet, oder was? Geht’s noch?

Eine eher präventive Maßnahme, bei der als Kollateralschaden das Demonstrationsrecht über die Wupper ging. Es gab Prügel, es gab Schwerverletzte. Es wurden Bundestagsabgeordnete von Polizisten in ihren Rechten beschnitten. Es wurden Pressevertreter verprügelt. Einheiten aus NRW haben sich als besonders brutal erwiesen – berichtet die Bild-Zeitung (!).

Nun könnte man sagen: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Oder: Klar, immer diese linken Spinner. Diese Argumente haben scheinbar auch dazu geführt, das die Presse sehr zurückhaltend war. Außer die FAZ. Da habe ich sehr gestaunt. Schwerverletzte bei Blockupy-Demonstration Dagegen hat Spiegel Online geschwiegen beziehungsweise faktisch berichtet. Sie hatten nur eine freie Journalistin geschickt, die über Banken schreibt. Kein Aufschrei. Nur der übliche Kleinkrieg. Wir mussten handeln…

Demonstrationsrecht beschnitten? Ausgehöhlt? Pressefreiheit eingeschränkt? HALLO! Deutschland, ein Wintermärchen. Heinrich Heine.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es scheint, dass Werte in Vergessenheit geraten. Dass die Politik bereit ist, dass wir alle bereit sind, Dinge über Bord zu werfen. Etwas ist faul im Staate Dänemark. Stehen alle noch hinter dem, was 1948 formuliert wurde? Sollten wir einmal einen gemeinsamen Fernsehabend nutzen, um gemeinsam das Grundgesetz zu lesen? Liest die Exekutive manchmal das Grundgesetz, oder ist das außer Mode? Sollten wir uns noch einmal neu erinnern, wie wir leben wollen? Es kommt immer auf den Geist an, der in einem Haus herrscht. Momentan herrscht der Geist des Gehenlassens. Die Bereitschaft, beim Thema Demokratie wegzusehen, weil sie im Tagesgeschäft stört? Weil es gerade nicht passt, dass Menschen eine Privatsphäre haben oder demonstrieren wollen? Wer die Demokratie nicht mehr zu 100% im Herzen trägt, verschenkt. Das macht erst traurig. Und dann kommt die Wut. Wir ernten, ernten, ernten, was wir säen, säen.

Der Himmel über Deutschland weint, der Demokratie laufen Tränen durchs Gesicht.

Im, am, beim, Lommerzheim

Lommerzheim, Köln-Deutz
Lommerzheim, Köln-Deutz

Kürzlich habe ich über die Kranhäuser geschrieben. Über dieses neue Viertel am Rhein. Auf dem Weg dorthin habe ich auch das andere Köln gesehen. An dieser Stelle möchte ich die Stadt dann doch verteidigen. Es gibt es weiterhin, das schöne, südliche, verrückte, spaßige, lachende Multikultitreiben. Das Herz dieser Stadt. Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Miteinander. Wollen wir ja nicht vergessen…

Wir hatten in Deutz geparkt und waren am Lommerzheim vorbeigekommen, dieser urigen Ur-Kölsch-Kneipe, die mittlerweile dem Päffgen gehört. Ich hatte Viveka den Laden zeigen wollen. Auf ein kurzes Kölsch. Die Tür stand offen, aber es war geschlossen. Putzzeit. Also standen wir in dieser sonst immer bis zum Bersten gefüllten Kneipe ganz alleine.

Normalerweise sind die Tische randvoll mit diesen Tellern mit den riesigen doppelstöckigen Koteletts, die ein Mensch allein kaum gegessen bekommt. Und die Theke ist umlagert und das Kölsch fließt so schnell wie der Rhein nebenan bei Hochwasser.

Nun waren wir ganz allein. Kein Stuhl besetzt. Niemand da. Also habe ich die Gelegenheit genutzt und das Lommerzheim abgelichtet. Die alten Boxshorts an der Wand hinten, die Geweihe. Das ganze Ding sollte schon komplett ins Museum wandern. Also die gesamte Kneipe, so, wie sie ist. Steht in Wikipedia. Nur gut, dass in Köln nicht alle Ideen Wirklichkeit werden. Was bitte schön, soll denn eine Kölsch-Kneipe wie das Kölner Lommerzheim im Museum? Das bringt doch nichts.

Wenn man sieht, wie viel Spaß die Leute in dem abgewrackten Laden haben, dann können einem die Ärmsten in den Kranhäusern schon leid tun. Dann doch lieber ein wenig Patina (ne!) und bröckelnden Fassadenputz. Härrlisch!

Und dann doch am Ende billig, billig, viel zu billig drangekommen…

Mann_Hemd

Früher hieß das: Eine Jacke für den Übergang. Ich weiß nicht, wie oft ich in meiner Kindheit diesen Satz gehört habe. Für den Übergang. Wenn es nicht mehr schweinekalt, aber auch noch nicht hundewarm war. “Ach, der Übergang!” Und umgekehrt. Wie lange dauert das? Wann fängt der Übergang an? Wann hört er auf?

Egal. Auf jeden Fall, ich brauchte so eine Jacke. Kürzlich. Weil die Daunendinger tatsächlich zu dick waren und ich außer meiner Softshell keine dünne Juppe habe. Keine dünnere. Also habe ich geforscht. Online. In die Stadt in die Fußgängerzonen zu ziehen, das schaff ich nicht mehr. So rein mental. Da bekomme ich schlechte Laune, Pickel, Kopfschmerzen, Übelkeit und Zuckungen. Ja, Zuckungen. Zwei Geschäfte mit Saunatemperatur, Bedienstetenparfümschwaden und Unruheatmosphäre wie in einer Einjährigen-Krabbelgruppe. Neeee!!! Kurz: Ich spar mir das.

Also den Finger auf die Maus, durch die Ladentür gesurft, die Pop-up-Verkäufer/innen weggeklickt und entspannt gestöbert. Nun wissen wir ja, das Prism mitstöbert und diese Online-Schweineläden Cookies setzen, die nachschauen, was man so macht. Und später, ganz zufällig, auf einer ganz anderen Seite, taucht so am Rande eine Werbung auf, die genau den Artikel anpreist, den man sich vorher angesehen hat. Wunder über Wunder.

Ich denke dann immer: Reg dich nicht auf. So isses. Auf jeden Fall nahm in dieser Geschichte die Geschichte ihren Lauf. Ich war in diesem Laden, der mich schon kennt und deshalb wusste, dass ich da war. Dort hatte ich eine Lederjacke erspäht. Genau, für den Übergang. So eine, wie ich sie schon lange gut finde. Bingo, mein inneres Kaufzentrum hatte auf Grün geschaltet. Zur Freude der Konsumforscher und aller Konsumindexe war ich also bereit, zu investieren. Geld auszugeben. Leichtsinnig zu verjubeln. Anzukurbeln. Aufschwung.

Moment. Ich bin protestantisch erzogen. Bete und arbeite. Da is nix mit leichtsinnig und mal eben so. Das muss schon ein guter Deal sein. Kurz gesagt: Die Jacke war mir zu teuer. 299 Euro. 300. 600 in Mark. WOW! Aber. Nun hat diese mir bekannte Firma es mit dem generellen Abverkauf der Übergangs- und Sommerware nicht so geschafft. Deshalb begann ein früher SSV. Die Jacke ging auf 219 runter. Hm. Ich zweifelte. Schaute, wartete. Och nö.

Dann meldete sich das Gedächtnis des Ladens. “Hey, der war jetzt schon öfter da, der will doch…” Also wurde mir die Entscheidung versüßt. Per Mail erhielt ich das Angebot, Einkaufsgutscheine mit 30% Preisreduktion zu kaufen. Kurzfristig. “Warten Sie nicht…” Durchgerechnet: 220 minus 30%. Etwas über 150. Also habe ich 150 auf die Theke des Hauses Paypal gelegt und gedacht: Gleich kommen die Gutscheincodes per Mail, du tippst die ein und hast ein schönes, feines Schnäppchen gemacht. FIFTYFIFTY:)

HA! Denkste. Es kam eine Bestellbestätigung und Message, dass die Gutscheine in den nächsten Tagen verschickt würden. DIE STRAFE GOTTES. Mindestens. Boah, ey. Als die dann kamen, war die Jacke weg. Klar. In meiner Größe. Ciao, ciao. Was war das Gejammer groß, wie unbedingt ich diese Jacke plötzlich haben wollte, wie gerne ich sie für 220 gekauft hätte. Verzockt, verspielt, rien ne va plus. Menschen sind ziemlich bekloppt. Ich meine, da sieht man doch: Alles selbstgemachtes Theater.

Aber. Aber? Ja sicher. Die Story geht weiter. Der bekloppte Typ, also ich, ließ nicht locker. Zunächst kaufte ich mir zwei um 50% reduzierte Sweatshirts in dem Shop, die ich für meine um 30% reduzierten Gutscheine bekam. Dann schaute ich regelmäßig, ob es die Jacke wieder gab. Es gibt ja Rückläufer. 14-tägiges Rückgaberecht. Manch einem gefallen die Sachen nicht oder da kneift was oder die Farbe ist Kacke oder…

Mein inneres Haben-wollen-Konsumzentrum gab keine Ruhe. “Die Jacke, die Jacke, oh Herr…” Die Jacke verschwand, weil sie komplett ausverkauft war. In allen Größen. Sie kehrte zurück, in einzelnen Größen. Aber nicht in meiner. Noch ein Artikel auf Lager. XXL. Dann gab es mal drei in anderen Größen. Dann war sie wieder weg. Ein heiteres, buntes Hin und Her.

Am Sonntag dann, also an dem Tag, an dem alles ruhen soll, ging der Shop in die Offensive. VIP-SSV-TOTAAL-Aberverkauf. Noch einmal 20%. Und dann. Echt ey. DA! Die Jacke in meiner Größe! 1 Artikel auf Lager. Adrenalin, jubilierende Fischerchöre in allen Organen. Tiefenkaufrausch. Wo sind die Gutscheine? Wie lautet meine Krankenkassennummer? Ach, quatsch. Ich habe bestellt. Ab in den Warenkorb. Husch, husch… Bunkern. MEINS. Finger weg. Das tiefe Habenwollen in allen Farben und Formen. Augenflackern. Das ganze Procedere. Rechner, jetzt nicht abstürzen. Firefox, bleib ruhig, nicht bewegen.

Als erstes musste ich den 20%-VIP-Code eingeben. YES! Funzt. Reduziert auf 119 Euro. Dann die Gutscheincodes (gefühlt 150-stellig) mit Ts und Zahlen und Bindestrichen ablesen und eingeben. DER CODE IST UNGÜLTIG. Ah. Oh. Uh. Den anderen Gutschein. BITTE! Lass das System nicht versagen. Mach, dass sich einer was dabei gedacht hat! Bitte keine Dilettanten-Programmierer. Zweiter Versuch. Angenommen. Weitere Codes. Nur noch ein Klick! Jaaaaaaaaaa…. Herr Schönlauuuu ist Weltmeister!!!!

Nun gut, nicht so ganz. Aber Besitzer einer neuen Jacke, so sie jemals hier ankommt. Vielleicht überlegt sich der arme Online-Ladenbesitzer das noch mal. Denn erst hat er 50% Prozent gegeben. Den Preis hat er um 20% reduziert und dann habe ich mit Gutscheinen bezahlt, auf die ich 30% bekommen hatte. Klar: Macht in der Summe 100%, also war das Ding geschenkt. Nein. Prozent auf Prozent auf Prozent. Ich sags euch: 80 Euro der Preis. Bin gespannt. Ob das alles so hinhaut. Und ja, ein wenig ein schlechtes Gewissen habe ich auch. Diese schäbige Geiz-ist-geil-Mentalität. Da hängt so was Ungutes dran. Aber so weit wollte ich ja gar nicht runter! Das war SCHICKSAL! Echt. Menno.

Wie auch immer. Jetzt heißt es warten. Auf Hans-Jürgen, meinen persönlichen Boten mit der gelben Kutsche, der den Herrn Cooper immer mit Leckerlis verzieht, weshalb der Herr Cooper bei Wetten, dass…! auftreten könnte, weil der das Postauto schon von weitem am Klang erkennt. Dieser Hund ist dermaßen intelligent, nö, verfressen…

Wenn sie da ist, sag ich Bescheid. Foto kriegt ihr aber nicht, sonst schreibt noch jemand, die würde doof aussehen und ich müsste sehen, wie ich damit mental zurecht komme. Ciao, ciao:)

P.S. Aber schön ist sie. Braun. Taschen vorne.

Allein, allein – allein, allein…

Douane 4_No 6_red

Hattet ihr schon einmal ein ganzes Hotel für euch allein, allein?

Ich schon. Gerade jetzt. Heute Morgen kam ich an. Ich war um zwanzig nach Vier aufgestanden, hatte mir in der Küche megaleise einen Cappuccino gebrutschelt und mich dann auf den Weg gemacht. Allein. Im Auto Richtung Schweiz. 11 Uhr musste, wollte ich da sein. So um 6 Uhr meldete dann der Verkehrsfunk einen üblen Unfall auf der A81 bei Stuttgart. Ein Falschfahrer. Alle 20 Minuten kamen mehr Infos. Falschfahrer plus Beifahrer. Schon auf der Bundesstraße Autos gerammt. Frontalzusammenstoß. Mercedesfahrer, 82, aus NRW. Der Beifahrer eine Beifahrerin, sein 75-jährige Frau. Später die Meldung, dass er gestorben ist. Und ein anderer. Mist.

11 Kilometer Stau zwischen Singen und Stuttgart. Die andere Richtung. Dann die Meldung. Sieben Kilomter Stau in meiner Richtung. Alle wollen gucken. Dass Wort Gaffer fällt nicht – mehr. Früher hieß es dann immer… So ist es netter. Meine Kinder schimpfen immer mit mir, wenn ich schimpfe, dass Staus entstehen, weil alle gucken müssen. Dabei ist das nur all zu menschlich. Meinen meine Kinder. Und ich versuche das auch zu meinen. Grrrrr.

Also habe ich dem Navi vertraut, bin von der Autobahn runter und in irgendeinem Dorf vor vier fetten Felsbrocken zum Stehen gekommen. Ende Gelände. Wo früher einmal eine Straße war, war nun ein Hindernis, hinter dem eine Schallschutzwand erreichtet worden ist, die vor dem Lärm der dahinterliegenden Eisenbahntrasse schützt. Wie vom Himmel gefallen all das und das Navi wusste von nix. Hat es geschworen, euer Ehren. Großes Navi-Ehrenwort.

Douane_red

Ich hatte viel Zeit verloren und ein wenig das Vertrauen in meinen Guide. “Hey, biste sicher? Kommt mir komisch vor.” Gegen die Richtung. Wachsende Entfernung zum Zielort. Dann stellte sich aber heraus, dass der eingebaute R2D2 eine Idee hatte, die uns letztlich aus der prekären Situation befreit hat. Einfach hinten rum gefahren und tatsächlich hinter den sieben Kilometern Stau wieder rauf auf die Autobahn. Danke, Kollege. Cool. Gut gemacht. Da hat er über alle Drehknöpfe gelacht und den ganzen Weg bis in die Schweiz vor lauter Glück gepfiffen. Echt:)

Als ich dann das Hotel erreichte, war geschlossen. Zumindest da, wo ich normalerweise rein gehe. Aber ich bin lernfähig, habe mir ein Beispiel an meinem pfiffigen elektronischen Beifahrer genommen und bin: hintenrum. Tür auf, rein in die Gaststube, keiner da. Stand da nicht auf dem Schild an der Tür: Montag und Dienstag Ruhetag? Äh. Nur nicht nervös werden. Kein Problem, Baby, die Tür ist ja auf. Und so bin ich durchs Haus und habe tatsächlich eine Frau getroffen, deren erste Worte waren: “Gerade habe ich an sie gedacht.” Hä? Kenn ich gar nicht. Ach so! Der angekündigte Gast. Ich dachte schon…

Sie hat mir den Schlüssel gegeben, mit mir die Frühstückszeit verhandelt und das wars. Am Abend kam ich zurück, und – ja, keiner da. Niemand nicht. Keine Seele. Licht im Flur, Gastraum verrammelt. Zu. Montag. O.K. Ich habe ja meinen Schlüssel. Ich schaue, ich höre. Tatsächlich niemand da. Nur ich – und ein Hotel. Nun liege ich hier, höre keinerlei Geräusch im Haus und werde jetzt gleich einfach pennen. Schön, dass ihr mir im Blog noch ein wenig Gesellschaft leistet. Ist doch ein gutes Gefühl. So läuft das, wenn man von Shavasana in die Schweiz kommt. Da wird alles ganz ruhig… (Ich hab mir Spotify angemacht, um ein wenig Geräuschkulisse zu haben. Die Schweizer Version. Spotify-Werbung auf Schwyzerdütsch.) Allein, allein… Polarkreis 18. Schlaft gut, träumt süß. Mach ich auch. Bittteeee.

Douane3_red